Auf den ersten Blick verheißt der Platz Idylle pur. Hohe Bäume, weite Lichtungen, sanft hügelige Wiesen, ein munter plätschernder Bachlauf, eine Gruppe Häuser mit hölzernen Fensterläden, dazwischen spielende Kinder, die fröhlich herumtoben. Dass dieser Ort für viele dieser Kinder die pure Hölle war, blieb jahrzehntelang unentdeckt.

Die Odenwaldschule im hessischen Heppenheim, kurz OSO genannt, galt in den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren als Vorzeigeinternat und pädagogisches Paradies. Gerold Ummo Becker, von 1972 bis 1985 Leiter der OSO, galt als der Reformpädagoge des Landes. Deshalb schickten (einfluss)reiche Familien wie die von Weizsäckers, Unselds oder die von Dohnanyis ihre Kinder dorthin. Auch Talkmasterin und Autorin Amelie Fried, Journalist Tilman Jens und Politiker Daniel Cohn-Bendit waren Odenwaldschüler.
Kinder und Lehrer lebten im engen Familienverbund, die Türen standen offen, geduscht wurde gemeinsam. Gerold Becker, so beschreibt es einer seiner ehemaligen Schüler, "war uns Vater und Mutter zugleich, das erleichterte ihm, unser Vertrauen zu gewinnen". An der OSO war alles erlaubt: kiffen, saufen, vögeln.

Doch mindestens sechs Lehrer, unter ihnen auch Becker, nahmen das zum Anlass, alle Grenzen des Anstands und der Verantwortung zu überschreiten und sich schändlich an ihren Schützlingen zu vergehen. Das Kollegium schaute weg, die unbelästigten Schüler erstarrten in Schweigen, die Opfer fanden niemanden, dem sie sich hätten anvertrauen können.

Ende der 1990er-Jahre fasste einer von ihnen (er wählte dazu das Pseudonym Jürgen Dehmers) den Mut, die Öffentlichkeit zu suchen. Er lief erneut gegen eine Mauer des Schweigens. Die wenigen Mitstreiter, die er fand, wurden als Lügner diffamiert, ihre Anschuldigungen als frei erfunden abgetan, ausgerechnet von denen, die wussten, dass das Ungeheuerliche an der OSO zum Alltag gehört hatte.

Erst als die Schule im Jahr 2010 ihr hundertjähriges Bestehen feierte, kam die mediale Empörungswelle ins Rollen. Bis heute sind 132 Fälle von sexuellem Missbrauch aktenkundig, doch, das ist die perfide Pointe, die Taten sind verjährt.

Die Wunden auf den Seelen der missbrauchten Kinder mögen oberflächlich verheilt sein, doch anders als die Täter haben die Opfer "lebenslänglich" bekommen. Dehmers hat seine Qualen aufgeschrieben. Das Buch "Wie laut soll ich denn noch schreien?" (Rowohlt Verlag) ist die verstörende Anklage eines Jungen, den Schulleiter Becker zum ersten Mal vergewaltigte, als er ein Kind von dreizehn Jahren war.

Drei Jahre dauerte sein Martyrium, dann war er körperlich stark genug, seinen Peiniger mit aller Kraft zurückzustoßen. Bis heute ist der inzwischen 45-Jährige in therapeutischer Behandlung.

Filmemacher Christoph Röhl, von 1989 bis 1991 selbst Tutor an der OSO, hat sich schon 2011 mit der viel beachteten TV-Dokumentation "Wir sind nicht die Einzigen" der Opfer angenommen. Ihm war es ein Herzensanliegen, die Geschichte jetzt noch einmal fiktional zu erzählen, um die Empathie der Zuschauer zu wecken.

Für den Part des Schulleiters konnte er Ulrich Tukur gewinnen, der die heikle Aufgabe mutig annahm. Die OSO, die sich mühsam der Vergangenheitsbewältigung stellt, erlaubte, dass am Originalschauplatz gedreht wurde. Und so wurde das Paradies noch einmal zur Hölle.

"Wir haben die Szene hinter uns gebracht"

TV SPIELFIM: Wie schlimm war es für Sie, die Missbrauchsszenen zu spielen?
ULRICH TUKUR Es war weniger schlimm, als ich vorher befürchtet hatte. Die Berührungsängste der beiden Jungen waren nicht so groß, wie es meine damals gewesen wären. Ich habe Nico, der den kleinen Volker spielt, kurz erklärt, worum es geht und was das schöne deutsche Wort Schau-Spiel bedeutet. Er hat mir vertraut, wir haben die Szene hinter uns gebracht und danach über all das gelacht, was schiefgelaufen ist.

Schwer zu ertragen ist die Szene, in der Missbrauchsopfer Frank in Tränen aufgelöst sagt: "Ich will das nicht", und der Schulleiter ihn liebevoll und beinahe väterlich mahnt: "Wenn du jemandem etwas über diese Sache sagst, dann erzähle ich allen, was du hier mit mir machst."

ULRICH TUKUR: Das genau ist das Prinzip, nach dem Missbrauch funktioniert. Die Jugendlichen denken tatsächlich, sie seien selbst schuld, sie zweifeln an sich, nicht an ihrem Lehrer. Das ist das Perfide und Verwirrende an dem System, das dieser Mensch errichtet hat. (...)

Susanne Sturm
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