Ganz leise schleichen sich die schwer gepanzerten Männer des Sondereinsatzkommandos durch den vierten Stock - nur um dann umso lauter die Wohnungstür des Verdächtigen einzurammen. Schüsse hallen durch die bröckelnden Treppenflure des Altbaus in Berlin-Mitte. Ganz knapp gelingt es Karoline Herfurth und Matthias Schweighöfer, durch die Hintertür aus der heruntergekommenen Dreizimmerwohnung zu fliehen.

Natürlich sind das nur Filmaufnahmen. Allerdings nicht fürs Kino, was man angesichts der Starpower - neben Schweighöfer und Herfurth auch Alexandra Maria Lara und Topmodel Toni Garrn - und des enormen technischen und personellen Aufwands annehmen könnte, sondern fürs Fernsehen. Sozusagen. "You Are Wanted" wird die erste deutsche Serie, die für einen Streamingdienst entsteht. Der Onlineriese Amazon will die sechs Folgen des Cyberthrillers bereits im nächsten Frühjahr seinen 17 Millionen deutschen Prime-Kunden zur Verfügung stellen.

Neben Amazon sind mit Netflix, Sky, TNT Serie und Maxdome derzeit bemerkenswert viele Pay-TV-Sender und Streaminganbieter dabei, deutsche Serien zu produzieren - mit einem für Deutschland noch nie da gewesenen Aufwand. Die neuen Formate sollen internationalen Vergleichen standhalten. "Wir produzieren ja für eine Video-on-Demand-Plattform, und da steht ‚You Are Wanted‘ neben ‚Fear the Walking Dead‘, ‚Mr. Robot‘ oder ‚The Man in the High Castle‘", erklärt Schweighöfer in einer Drehpause. "Und ich glaube, das muss auch erst mal so anmuten, dass du sagen kannst - krass, das wirkt unglaublich amerikanisch."

Die Schweighöfer Thrillerserie

Filmcontact

Auf der Flucht - Schweighöfer und Co-Star Karoline Herfurth in Undercoverklamotten

Schweighöfer spielt in "You Are Wanted" einen Familienvater, dem seine Identität gestohlen wurde. Ein Unbekannter hat sich seiner persönlichen Daten bemächtigt - und begeht in seinem Namen zweifelhafte Taten mit unangenehmen Konsequenzen.

Dass er auch hinter der Kamera den gehetzten Gesichtsausdruck seiner Figur nie ganz verliert, liegt auch daran, dass Schweighöfer für seine Produktionsfirma Pantaleon eine Herkulesaufgabe übernommen hat: Der 35-Jährige ist Hauptdarsteller, Produzent und Regisseur zugleich.

Um die angestrebte "amerikanische" Qualität zu erreichen, bedient er sich eben auch amerikanischer Produktionsmethoden. Typisch für US-Serien sind "Showrunner", Produzenten, die für die Durchsetzung ihrer künstlerischen Vision mit absoluter Macht ausgestattet werden. Unnötig zu erwähnen, dass Schweighöfer auch Teil des "Dialogteams" ist, das zusammen mit dem vorarbeitenden "Strukturteam" die Drehbücher schreibt.

"Amerikanisch" bedeutet auch, dass viele Produktionsprozesse simultan laufen. Deshalb wurde der Altbau in Berlin-Mitte komplett angemietet. Während in Etage 4 mehrere Kamerateams die Wohnungsstürmung drehen, fällt in Etage 2 die Klappe für eine Verhörszene. Das gesamte Material wird in Etage 5 gesichtet und augenblicklich geschnitten. Praktisch und effizient. Und anstrengend für Schweighöfer, der unablässig im Treppenhaus zwischen Sets und Kontrollmonitoren hin- und herrennen muss.

Investoren im Goldrausch

Eine Folge "Game of Thrones" kostet zehn Millionen Dollar. Etwas weniger habe er für seine 6-mal 45 Minuten insgesamt, sagt Schweighöfer, ohne eine konkrete Zahl zu nennen. Klar ist aber: Der Minutenpreis geht weit über die bisher für deutsche Serien ülichen zehn- bis zwölftausend Euro hinaus.

Und das gilt auch für die anderen deutschen Serienschmieden: Es wird Geld ausgegeben wie nie zuvor. Derzeitiger Rekordhalter ist das Megaprojekt "Babylon Berlin", das Tom Tykwer gerade für einen Verbund aus ARD und Sky realisiert. Für zwei Staffeln à acht Folgen hat der Starregisseur satte 40 Millionen Euro zur Verfügung (also etwa 56 000 Euro pro Minute). Das gab es noch nie. Die kürzlich für 2018 angekündigte neue Serienfassung von "Das Boot", das wichtigste Sky-Projekt der nächsten Jahre, hat mit 25 Millionen Euro für 8-mal 60 Minuten aber schon ein ähnlich hohes Budget.

Woher kommt auf einmal so viel Geld? Wer nur für den deutschen Markt produziert, steht - anders als in den USA - vor dem Problem, dass die Zuschauerschaft relativ klein ist und sich allzu große Investitionen in eine Serie einfach nicht amortisieren können. Wer aber für eine international verfügbare Plattform wie Sky, Amazon oder Netflix arbeitet, vermehrt sein Publikum um ein Vielfaches und macht sich unabhängig von den Gegebenheiten des deutschen Markts.

Zudem werden Unternehmer wie Netflix-Gründer Reed Hastings nicht müde, in Interviews den Tod des traditionellen Fernsehens zu verkünden. Die Zukunft gehöre den Streamingdiensten. Sie versprechen ein ähnlich kühnes, völlig neues TV-Erlebnis, wie es das Pay-TV-Network HBO Anfang des Jahrtausends mit legendären, die Sehgewohnheiten verändernden Serien wie "Die Sopranos" oder "The Wire" bot. Hastings gelingt es mit seinem selbstbewussten Auftreten, Investoren zu überzeugen und in eine Pionierstimmung zu versetzen: Man weiß nicht genau, wo die Reise hingeht, will aber auf jeden Fall dabei sein, wenn die Traumrenditen eingestrichen werden, und beteiligt sich deshalb an den neuen Inhalte-Plattformen.

Mit all dem Geld entsteht allerdings nicht nur kühne neue Fiktion, sondern auch Serien wie "Vinyl" (HBO) oder "The Get Down" (Netflix), die mit unglaublich teurer Ausstattung blenden und mit erschreckender Inhaltsleere langweilen.

Als Medienjournalist fühlt man sich manchmal an die Dotcom-Blase erinnert, die sich Mitte der 90er aufblähte und 2000 platzte. Mit dem Versprechen unbegrenzten medialen Wachstums wurden damals auch fragwürdigsten Start-ups Millionenbudgets gewährt - bis zum großen Knall.

Sieht so auch die Zukunft des Fernsehens aus?

Sender und VoD-Anbieter in einem Boot

Nein, denn tatsächlich ist de Konkurrenz zwischen Pay- und Free-TV sehr viel weniger scharf, als Hastings uns glauben machen will. Bei Netflix stehen eigenproduzierte Serien harmonisch neben eingekauften Inhalten der ARD. Die vom Pay-TV-Kanal TNT lancierte (und vom jetzigen RTL-Fiktion-Chef Philipp Steffens produzierte) Serie "Weinberg" läuft nun in zweiter Ausstrahlung auf Vox. Ein offenbar lohnendes Geschäftsmodell, denn TNT Serie setzt seinen Eigenproduktionskurs mit der prominent besetzten Krimiserie "4 Blocks" fort.

Auch die schon angesprochene Kooperation zwischen Sky und der ARD bei "Babylon Berlin" scheint sich für beide Seiten zu rechnen. Der Gebührenzahler soll wegen des sehr teuren Projekts keine Einbußen im Gesamtprogramm hinnehmen müssen. ",Babylon Berlin‘ kostet uns pro Sendeminute so viel, wie wir für einen Samstagabendfilm ausgeben, der ungefähr 1,8 Millionen Euro kostet. Wir investieren also die Summe, die wir sonst auch für 16 Teile à 45 Minuten ausgeben würden, oder besser für acht 90-Minüter", erklärt Christine Strobl, die "Babylon"
als Degeto-Chefin co-produziert. Auch RTL geht für die zweite Staffel seiner hervorragenden Spionageserie "Deutschland 83", die "Deutschland 86" heißen wird, wohl eine Kooperation mit Amazon Prime ein.

Es ist anzunehmen, dass dem Format ein größeres Budget zugestanden wird. Das kann sich in mehr Zeit für Drehbuch und Dreharbeiten niederschlagen, in hochwertigeren Bildern, mehr Actionszenen. Das ist gut. Welche Forderungen werden die Geldgeber wohl an das Format stellen?

Storys, die weltweit verstanden werden

Am Schweighöfer-Set sind die SEK-Schüsse verklungen. Ein alter Mann im Bademantel schlappt zum Briefkasten - kein Schauspieler, sondern der letzte Mieter dieses Wohnblocks. Er freut sich über den ungewohnten Rummel. Irgendwie typisch Berlin. In der Serie wird man ihn nicht zu Gesicht bekommen. Die Stadt schon. Oder? "Wir haben versucht, Berlin so zu filmen, dass es eigentlich überall sein könnte", sagt Schweighöfer. "Die Serie soll nicht spezifisch deutsch wirken."

Die Kunden der internationalen Plattformen wollen mutmaßlich nicht Deutschland sehen, sondern eine professionell gemachte Serie, die weltweit verstanden wird. Ein Produkt, das so verlässlich befriedigt wie ein Starbucks-Kaffee oder ein McDonald's-Burger. Wird das die Kehrseite der deutschen Serienrevolution? Mal sehen.

Autoren: Steven Sowa und Frank Aures