Wer in Filmbildern vom alten Berlin erzählen will, darf nicht in Berlin nach ihnen suchen. Unsere Hauptstadt, die nach dem Mauerfall jahrzehntelang eine geschlossene Großbaustelle war, ist mittlerweile fertig. Entkernt, rausgeputzt, voller Konzernzentralen und Diplomatenbauten. Die Spuren der abgewohnten, grauen, nach Kohle stinkenden Großstadt sind getilgt.

In Prag sieht das ganz anders aus. Wenn man den öden Autobahnzubringer vom Flughafen hinter sich gelassen hat, durchfährt man lange Straßenzüge mit alten Jugendstilfassaden, nicht renoviert, so ähnlich wie früher in Berlin. Sat.1 dreht hier einen Eventfilm, der in den 20er-Jahre spielt und der "Mordkommission Berlin 1" heißt.
Der Produktionsfahrer zeigt uns die Disposition für die Szenen, die heute gedreht werden sollen. Vorgesehen sind laut Bedarfsliste: 10 Profi-Tänzer, 5 androgyne -Typen, 3 exotische Leute, außerdem Kleinwüchsige, sexy Separee-Girls, Politiker, Kellner, Musiker, Transvestiten und "Fritz Lang". Mehr als 100 Menschen werden in der großen Massenszene zu sehen sein, die das Team heute in den Kasten bekommen muss.

Ringvereine regierten Berlin

In "Mordkommission Berlin 1" sucht Friedrich Mücke als Kommissar Lang nach den Hintermännern eines Bombenattentats, das seine Frau und Tochter tötete. Kann tatsächlich sein Erzfeind Tauss (Tobias Moretti) dahinterstecken? Der ehemalige Anführer der "Krokodile", eines verbrecherischen Ringvereins, sitzt doch völlig isoliert im Gefängnis? Mit seiner regiden Ermittlungsarbeit stört Lang die Kokain- und Prostitutionsgeschäfte der Gangster. Und bald gibt es eine weitere Leiche.

Gedreht wird das im Hinterhof einer alten Mietskaserne, in dessen Mitte ein klotziges kleines Gebäude steht, durch das man in den Keller steigen kann. Schon auf dem Bürgersteig davor tummeln sich interessant aussehende Menschen. Junge Frauen in goldenen Paillettenkostümen, schlaksige Anzugträger mit Kajalaugen, Gangstertypen mit Gesichtern wie aus einem Otto-Dix-Gemälde. Alle warten. Und versuchen, das an diesem heißen Julitag möglichst an einem der wenigen Schattenplätze zu tun.

Der Drehort ist unter der Erde. Die Treppe im Klotz führt ins eigens gebaute Varieté "Der Irrgarten". Mit jedem Schritt wird es heißer, im Ballsaal am Ende der Gewölbegänge ist die Hölle los. Der Raum ist vollgestopft mit Menschen, die Luft rauchgeschwängert. Immer wieder brüllt Charleston-Musik aus den Lautsprechern, fängt die Band an zu spielen, die Tänzer an zu tanzen, und sie atmen das letzte bisschen Sauerstoff weg.

Wettlauf um die Crimestorys der Epoche

Die Ausstattung ist sagenhaft. Jedes Plakat an der Wand, jede Zigarettenpackung im Hintergrund, jedes tief ausgeschnittene Kleid passt perfekt in die behauptete Zeit. Sat.1 lässt sich diesen Film offensichtlich einiges kosten. Aber der Sender will mit seiner "Mordkommission Berlin 1" auch ein Rennen gewinnen.

Das Wettrennen um die Bilderwelt der 20er-Jahre. Wahrscheinlich waren es Serien wie das amerikanische "Boardwalk Empire" oder das britische "Peaky Blinders", die den deutschen Produzenten ins Bewusstsein riefen, dass das verrufene, bunte, pulsierende 20er-Jahre­Berlin bisher noch kaum im Fernsehen erzählt wurde.

Ein dramaturgischer Schatz, den derzeit viele heben wollen. Wer die Bilder in seinem Film zuerst zeigt, hat noch die volle Aufmerksamkeit des Publikums. Nachfolgende Produktionen mit ähnlichem Thema haben es meist schwerer.

Das ambitionierteste 20er-Jahre-Projekt verfolgt sicherlich Tom Tykwer. "Babylon Berlin" ist allein schon finanziell beachtlich: 25 Millionen Euro sollen die zehn Folgen kosten, die auf den Kommissar-"Gereon Rath"-Bestsellern von Volker Kutscher beruhen. Dabei hat der deutsche Regiestar mit 2,5 Millionen pro 60-Minuten-Episode in etwa dasselbe Budget, das auch den hochklassigen US-Serien zur Verfügung steht. Das gab es in Deutschland bisher noch nicht.

Um die gewaltige Summe zusammenzubekommen, hat Tykwer es geschafft, sowohl ARD als auch den Pay-TV-Sender Sky ins Boot zu holen. Einfach scheint die Zusammenarbeit nicht zu sein. So verkündete WDR-Intendant Tom Buhrow kürzlich noch öffentlich, "Babylon Berlin" wackele, was Sky prompt dementierte. Der Drehstart wurde jedenfalls von Mitte 2015 auf Anfang 2016 geschoben.

Die UFA Fiction, eine der größten TV-Filmproduktionsfirmen Deutschlands, ist mit ihrem Projekt derzeit aus dem Rennen. Die Krimi-Miniserie "Killing Berlin" über die Ermittlungsmethoden damals wurde auf Eis gelegt. Finanzierung und Entwicklung hatten sich zu sehr in die Länge gezogen. Zu groß war der zeitliche Abstand zu den anderen geworden.

Mit der geplanten Serie "Hitler" über den jungen Adolf Hitler wird die Firma aber einen ähnlichen historischen Zeitraum behandeln. Ausstrahlender Sender soll RTL werden, auch wenn die Kölner sich dazu bisher noch nicht verbindlich geäußert haben.

Der legendäre Ernst Gennat

Abgedreht ist der Kinofilm "Fritz Lang - Der Andere in uns", der Anfang nächsten Jahres anlaufen soll. Heino Ferch spielt Regisseur Fritz Lang, der sich in Vorbereitung zu seinem Meisterwerk "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" (1931) im Berliner Rotlicht herumtreibt. Thomas Thieme übernimmt die Rolle des Ernst Gennat (1880-1939), jenes legendären Mordermittlers der Berliner Polizei, der als Vater der modernen Kriminalistik gilt.

Schon Fritz Lang formte nach ihm seinen Kommissar Lohmann, der in "M" und "Das Testament des Dr. Mabuse" die Täter stellte.
Alle aktuellen 20er-Jahre-Projekte spielen mit der Figur und den Erkenntnissen von Ernst Gennat. Auch Sat.1. Dort läuft im Anschluss an den Spielfilm um 22.20 Uhr die eigenproduzierte Doku "Der erste Bulle - Wie Ernst Gennat die moderne Polizeiarbeit erfand".

Umbaupause - die Kamera wird auf einen riesigen Kran montiert, die Tänzer sollen nun von oben gefilmt werden. Wie haben die diesen Koloss bloß hier reinbekommen?

Regisseur mit Zombiemutter

"Die 20er waren komprimierter Irrsinn. Es hat sich enorm viel getan, in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Gesellschaft. Es war überbordend in allen Belangen", sagt Regisseur Marvin Kren. Der 35-jährige Wiener gilt als großes Talent. Als Debütfilm legte Kren den Zombiefilm "Rammbock" (2010) vor, dem sich der Kinofilm "Blutgletscher" und drei "Tatorte" anschlossen. Vom No-Budget-Studentenfilm zum groß budgetierten Eventfilm in fünf Jahren - die neuen, üppigen Produktionsverhältnisse müssen ungewohnt sein. Aber Kren hat damit kein Problem: "Größeres Budget bedeutet auch, dass größere Schauwerte möglich sind - und dafür gebe ich gern viel Geld aus."

Brigitte Kren, die Mutter des Regisseurs, geht schwer atmend vorbei in die Pause. Eben noch hat die Schauspielerin auf der Bühne für die Kamera eine Tanzshow hingelegt, die in einem Spagat endet. Für ihren Sohn hat die 57-Jährige schon öfter gespielt. In "Rammbock" war sie ein Zombie.

Es geht wieder los. Die Tänzer machen sich bereit, die Charleston-Musik wird erneut abgespielt. Sie werden sie noch bis spät in die Nacht immer wieder hören. Und auch die Zuschauer wird der Rhythmus wohl noch einige Zeit begleiten. Wenn all die anderen Produktionen uns immer wieder an den so gefährlichen wie aufregenden Beat des alten Berlin erinnern.

Frank I. Aures
Stichwort 20er-Jahre
Was macht das Berlin von damals für uns Heutige so interessant? Ein paar Aspekte.

Die Krise der Politik: Achtmal wird zwischen 1920 und 1933 der Reichstag gewählt, 20-mal bildet sich das Kabinett neu, die längste Amtszeit beträgt 21 Monate, die
kürzeste 48 Tage.

Die Krise der Wirtschaft Superinflation:
1 Kilo Brot kostet 1923 mehr als 400 Milliarden Mark, Ladenbesitzer fahren ihre Tageseinnahmen in der Schubkarre zur Bank.
1924 bis 1929 klettert die Wirtschaftskraft mühsam auf das Niveau von 1914. Erneuter Zusammenbruch durch die Weltkrise 1929.
Die Arbeitslosigkeit steigt von 300 000 (1921) auf über 5 Millionen (1932).

Berlin und der Mythos der Ära
■ Die Bevölkerung der Stadt steigt von 1,9 Millionen 1919 auf rund 4 Millionen 1925
■ Alte Autoritäten gehen unter, und neue Medien, Moden und Freiheiten geben den Menschen das Gefühl eines neuen Zeitalters
■ Frauen befreien sich buchstäblich aus dem Korsett, erobern mit dem Kultobjekt der Zeit, der Zigarette, Männerdomänen. Ihr Stilvorbild: Marlene Dietrich
■ Film (Hollywood) und Musik (Jazz) werden durch Kino, Schallplatte und Tanzlokale zu Massenmedien
■ Avantgardistische Kunstströmungen wie Dadaismus, Surrealismus, Neue Sachlichkeit entfalten sich rasend schnell
■ Berlin gilt als heißeste Metropole Europas, und doch fahren nur die allerwenigsten
Auto, besuchen Revuen; die Mehrheit erlebt die "Goldenen Jahre" als Zuschauer
Berlin sehen und lesen
■ Fabelhaft: Erich Kästners "Fabian" ist als "Der Gang vor die Hunde" neu erschienen
■ Ungeschöntes Zeugnis der Zeit: Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" und Fassbinders Verfilmung als Serie
■ Gediegenes Panorama der Epoche: Josef Vilsmaiers Film "Comedian Harmonists"
■ Einmaliges, weil authentisches Juwel: der Film "Menschen am Sonntag" von 1929
Mordkommission Berlin 1
DI 1.12. Sat.1 20.15 Uhr