Es war im Frühjahr 1945: In einem Koffer gelangt ein dreijähriger Junge in das Konzentrationslager Buchenwald. Die kommunistischen Häftlinge, die ihn entdecken, stehen vor einem Dilemma: Ihn zu verstecken ist extrem gefährlich.

Nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch für den Aufstand, den sie seit Langem heimlich planen. Doch das Kind zu opfern hieße auch, den letzten, entscheidenden Rest Menschlichkeit aufzugeben. Der Kleine wird versteckt. Mit Waffengewalt gelingt es den Inhaftierten, die SS-Bewacher zu vertreiben und das Lager samt dem Jungen zu retten.
Den zutiefst anrührenden Roman von Bruno Apitz, in dem er die eigenen KZ-Erfahrungen verarbeitete, kannte, ebenso wie die DEFA-Verfilmung von 1963, in der DDR jedes Kind. Die Geschichte war Pflichtlektüre, das Buch gehört zum Kanon des antifaschistischen Selbstverständnisses des jungen Staates als "besserem" Deutschland.

"Der Roman erzählt die Geschichte einer Selbstbefreiung. Die hat es aber nicht gegeben", sagt Stefan Kolditz. Der 1956 in Kleinmachnow geborene Drehbuchautor schrieb die Vorlage für eine Neuverfilmung, die den Buchenwald-Aufstand entideologisiert und ihn näher an die historische Wahrheit heranrückt.

"Am Ende stürmen im Roman die mit Waffen ausgestatteten Häftlinge das Lager und vertreiben die SS. Tatsächlich aber ist die SS geflohen, weil die Amerikaner gekommen sind. Die Selbstbefreiung gehört zur Legitimation der DDR: Wir haben uns aus eigener Kraft befreit", erklärt Kolditz.

Hinter dem aufwendigen Projekt steckt mit Produzent Nico Hofmann, Regisseur Philipp Kadelbach und Stefan Kolditz das Kernteam des Kriegsdreiteilers "Unsere Mütter, unsere Väter", der auch internationale Beachtung fand.

Mit einem Budget von fünf Millionen Euro wurde das Lager Buchenwald in einem tschechischen Filmstudio nachgebaut. Hunderte Komparsen füllten die acht künstlich gealterten Baracken, marschierten durch das eigens gefertigte schmiedeeiserne Tor mit dem zynischen Spruch "Jedem das Seine".
Gedreht wurde auch im ehemaligen Gefangenenlager Vojna, 60 Kilometer südwestlich von Prag. Hofmann gelang es sogar, eine Drehgenehmigung für das historische Buchenwald-Gelände zu bekommen, auf dem sich heute eine Gedenkstätte befindet. Ohne das neue Drehbuch mit seinen Korrekturen wäre das wohl nicht geschehen, denn den Schilderungen im Apitz-Roman steht die Leitung der Gedenkstätte sehr kritisch gegenüber.

Gefilmt wurde wegen des Friedhofscharakters der Anlage allerdings nur außen vor dem Tor. Intensiv ist der Film trotzdem geworden. So anrührend und so hart, wie er um 20.15 Uhr nur sein kann. "Nackt unter Wölfen" zeige, wozu der Mensch fähig sei, sagt Kolditz, "zur größten Grausamkeit und zur größten Empathie".

Geschichten, die von außergewöhnlicher Niedertracht erzählen, kennen wir alle viel zu viele. Solche von außergewöhnlichem Mitgefühl sind weitaus seltener. Sie sind kostbar, man will an sie glauben. Die Geschichte von den geschundenen Männern, die unter Lebensgefahr ein fremdes Kind schützen, ist so eine. Ist sie wahr?

"Es gab tatsächlich 900 Kinder in Buchenwald, und zwei oder drei waren drei Jahre alt", sagt Kolditz. "Das sogenannte Buchenwald-Kind ist eine Konstruktion, die dem Buch und dem Film später noch eine zusätzliche Legitimation gegeben hat."

Stefan Jerzy Zweig kam Anfang 1944 als Dreijähriger zusammen mit seinem Vater in das Konzentrationslager. Am 25. September erschien sein Name auf einer Deportationsliste für Auschwitz. Mithilfe der kommunistischen Insassen, sogenannter Funktionshäftlinge, die an allen wichtigen Positionen des "selbstverwalteten" Lagers arbeiteten, erreichte der Vater, dass der Name gestrichen wurde. Statt seiner wurde Willy Blum in Auschwitz umgebracht. Kein Kommunist, sondern ein sechzehnjähriger Sinti-Roma-Junge.

Für Volkhard Knigge, Geschichtsprofessor und Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, ist die Rettung des Kindes daher auch keine heldenhafte Tat, sondern nur ein "Opfertausch". Ein Begriff, der dem heute 74-jährigen Zweig unerträglich ist.

Gerichtlich versuchte er Knigge die Verwendung zu untersagen. Die Legenden müssten ein Ende nehmen, entgegnete Knigge vor Gericht, willigte aber ein, das Wort in Interviews nicht mehr zu benutzen.

Zweig wusste als Kind nichts von der Liste. Dass ein Vater alles tut, um sein Kind zu schützen, ist selbstverständlich. Nur muss normalerweise kein anderes Kind dafür sterben. An einem Konzentrationslager ist aber nichts normal, es ist als Ganzes zutiefst pervers.

"Die SS hat Anforderungen gestellt: Morgen müssen zweitausend Häftlinge nach Auschwitz. Die Listen mussten die Barackenältesten erstellen", sagt Kolditz. "Da hat manchmal ein Austausch von Häftlingen stattgefunden. Der Begriff Opfertausch ist jedoch falsch und geschmacklos, weil er die Verantwortung dafür den Häftlingen gibt."

Es war also in Wirklichkeit anders als in Buch und Film. Viel komplizierter, viel schwieriger in Kategorien wie "Gut und Böse", oder "Richtig und Falsch" einzuordnen. Doch schmälert das die Taten der Helfer und ihre Bedeutung nicht. Denn tatsächlich sind nicht nur ein Kind, sondern viele Kinder gerettet worden.

Sie hätten ohne den massiven Schutz der Häftlinge unter den mörderischen Lagerbedingungen niemals überleben können. Und auch wenn der Aufstand in Buchenwald in Wirklichkeit weniger dramatisch war als in der DDR-Propaganda - die Tatsache, dass er stattgefunden hat, dass es unter der extremen Kontrolle in einem Konzentrationslager organisierten Widerstand geben konnte, ist tröstlich. Und hat wohl vielen Menschen das Leben gerettet, wie in der Dokumentation erklärt wird, die nach dem Film läuft.

Ohne die straffe Organisation der kommunistischen Häftlinge wäre das Lager nach der Befreiung durch die Amerikaner wohl im Chaos versunken. Stefan Kolditz würde mit seiner Neuauflage von "Nackt unter Wölfen" gern zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur von Ost- und Westdeutschland beitragen. Genügend Fragen und Anreize, um über die historischen Hintergründe und ihre Bedeutung frisch ins Gespräch zu kommen, bietet sie auf jeden Fall.

Frank I. Aures
Nackt unter Wölfen
MI 1.4. ARD 20.15 Uhr
Anschließend Doku:
Buchenwald. Heldenmythos und Lagerwirklichkeit
Der Film von Frank Beyer
In der eindrucksvollen Verfilmung von 1963 stürmen die kommunistischen Häftlinge das Lager mit Waffengewalt. DEFA-Star Erwin Geschonneck war als Hauptdarsteller besonders glaubhaft. Er war einer der wenigen Überlebenden des "Cap Arcona"-Untergangs am 3. Mai 1945, bei dem 4600 KZ-Häftlinge in der Lübecker Bucht umkamen.
Der Roman von Bruno Apitz
Die Neuauflage des Klassikers von 1958 macht erstmalig den unzensierten Originaltext zugänglich; lohnend sind auch die zusätzlichen frühen Apitz-Texte. (Aufbau)
Das echte Buchenwald-Kind
Stefan Jerzy Zweig (74) wurde von DDR-Journalisten in Lyon als das "echte" Buchenwald-Kind ausgemacht. Er arbeitete ab 1964 als Kameramann im Studio Babelsberg, heiratete 1972 eine DDR-Bürgerin und zog mit ihr nach Wien. Seine 2005 im Eigenverlag erschienene Biografie heißt "Tränen allein genügen nicht".
Das KZ Buchenwald
Das 1937 errichtete Konzentrationslager auf dem Ettersberg bei Weimar war eines der größten auf deutschem Boden. Insgesamt waren über 250 000 Menschen inhaftiert. Über 56 000 wurden hier ermordet. Als Anfang April 1945 die US-Streitkräfte immer näher rückten, versuchten die SS-Bewacher das Lager zu "evakuieren", also die Häftlinge auf Todesmärsche zu schicken. Mittels Sabotage und Boykott konnten die Häftlinge das verhindern und am 11. April 1945 durch einen bewaffneten Aufstand die Kontrolle über das Lager übernehmen. Im Jahr 1958 ließ die DDR auf dem Gelände ein Mahnmal und eine Gedenkstätte errichten.