"Skandal!" war schon immer ein Treibmittel der Medien, wenn die Nachrichtenlage mal wieder nichts hergab. Wenn Reiche und Berühmte über die Stränge schlagen, schaut man eben gern zu. Was liegt da näher, als die Sommerflaute mit einem ganzen "Summer of Scandals" zu vertreiben, wie Arte es jetzt tut. Zum Zehnjahresjubiläum der Erfolgsreihe - der "Summer of..." liegt bei den Zuschauerzahlen traditionell über dem Senderschnitt - widmet sich der Kulturkanal den großen Aufregern der Pop- und Filmgeschichte. Vom 16. Juli bis zum 21. August dreht sich samstags und sonntags alles um Filme, Musik und Mode, die für Empörung gesorgt haben.
Mit Marco Ferreris Satire "Das große Fressen" aus dem Jahr 1973 und Stanley Kubricks Literaturverfilmung "Lolita" von 1961 greift der Arte-Sommer tief in die Mottenkiste der öffentlichen Aufregung, die damals von anderem Kaliber war als heute. Sie erreichte politische Dimensionen, beschäftigte Kultur- und Bildungsinstanzen und versetzte dem Bürgertum Schocks, von denen Berufsprovokateure heute nur träumen können.
Mit Marco Ferreris Satire "Das große Fressen" aus dem Jahr 1973 und Stanley Kubricks Literaturverfilmung "Lolita" von 1961 greift der Arte-Sommer tief in die Mottenkiste der öffentlichen Aufregung, die damals von anderem Kaliber war als heute. Sie erreichte politische Dimensionen, beschäftigte Kultur- und Bildungsinstanzen und versetzte dem Bürgertum Schocks, von denen Berufsprovokateure heute nur träumen können.
Was ist heute skandalös?
Ist die große Zeit der Skandale vorbei? Vielleicht. Sex allein ist jedenfalls kein heikles Thema mehr, die Grenzen sind anders gesetzt. Ingrid Thulins Selbstbefriedigungsakt im Ingmar-Bergman-Drama "Das Schweigen", der 1963 viel Verwirrung stiftete, ruft heute keinen Sittenwächter mehr auf den Plan. Auch Nagisa Oshimas Erotikdrama "Im Reich der Sinne", in dem ein Paar seine sexuellen Obsessionen bis hin zu Kastration und Mord beim Verkehr auslebt, würde heute sicher nicht mehr, wie 1976 auf der Berlinale geschehen, unter großem Tamtam beschlagnahmt.
Was Spielfilme vor Jahrzehnten auslösen konnten, mutet heute, wo die Verfilmung von Charlotte Roches Skandalroman "Feuchtgebiete" bereits ab 16 Jahren freigegeben ist, seltsam unwirklich an. Wer heute den Tabubruch bewusst sucht und im Medienrauschen wahrgenommen werden will, muss mehr bieten. Der Independentfilm "The Brown Bunny" beispielsweise provozierte auf den Filmfestspielen in Cannes 2003, weil der Oralsex zwischen den Darstellern Chloe Sevigny und Vincent Gallo offensichtlich nicht gespielt war. Dass Sevigny im Interview den Blowjob mit dem Geständnis "Ich hatte mit Vin- cent bereits vor dem Dreh Sex" als authentisch outete, bescherte den kleinen Film mit noch größerer Aufmerksamkeit.
Was Spielfilme vor Jahrzehnten auslösen konnten, mutet heute, wo die Verfilmung von Charlotte Roches Skandalroman "Feuchtgebiete" bereits ab 16 Jahren freigegeben ist, seltsam unwirklich an. Wer heute den Tabubruch bewusst sucht und im Medienrauschen wahrgenommen werden will, muss mehr bieten. Der Independentfilm "The Brown Bunny" beispielsweise provozierte auf den Filmfestspielen in Cannes 2003, weil der Oralsex zwischen den Darstellern Chloe Sevigny und Vincent Gallo offensichtlich nicht gespielt war. Dass Sevigny im Interview den Blowjob mit dem Geständnis "Ich hatte mit Vin- cent bereits vor dem Dreh Sex" als authentisch outete, bescherte den kleinen Film mit noch größerer Aufmerksamkeit.
Sex im Film
Auch bei der Premiere des Films "Irreversibel" kam es zum Eklat. Nach einer ultrabrutalen, wie im Delirium gefilmten Discoschlägerei zu Beginn des Films verließen Hunderte Zuschauer den Kinosaal vorzeitig. Ihnen entging eine Szene, die dem Film später den unrühmlichen Titel "most walked-out-of movie of the year" ("Newsweek") einbrachte: eine schier endlose, in Wahrheit neun Minuten lange
und in ihrem nüchternen Realismus verstörende Vergewaltigungsszene mit Monica Bellucci.
Es geht aber auch ganz ohne Sex, wie Martin Scorseses "Die letzte Versuchung Christi" unter Beweis stellte. Anlässlich der Uraufführung bei den Filmfestspielen in Venedig hatten 75 katholische Verbände eine Klage wegen gotteslästerlicher Szenen angedroht, und auch in den USA löste der Film Stürme der Entrüstung aus. Dass religiöse Stoffe eine hohe Skandalquote haben, wusste auch Mel Gibson, der als Regis- seur des Dramas "Die Passion Christi" (2004) Jesus' letzte Stunden in einer Orgie aus Blut und Gewalt gipfeln ließ.
Für die Art der Schilderung fand er sich und seinen Film im Kreuzfeuer der Kritik wieder. Insbesondere jüdische Verbände beklagten, die Juden seien als blutrünstiges Volk dargestellt worden.
und in ihrem nüchternen Realismus verstörende Vergewaltigungsszene mit Monica Bellucci.
Es geht aber auch ganz ohne Sex, wie Martin Scorseses "Die letzte Versuchung Christi" unter Beweis stellte. Anlässlich der Uraufführung bei den Filmfestspielen in Venedig hatten 75 katholische Verbände eine Klage wegen gotteslästerlicher Szenen angedroht, und auch in den USA löste der Film Stürme der Entrüstung aus. Dass religiöse Stoffe eine hohe Skandalquote haben, wusste auch Mel Gibson, der als Regis- seur des Dramas "Die Passion Christi" (2004) Jesus' letzte Stunden in einer Orgie aus Blut und Gewalt gipfeln ließ.
Für die Art der Schilderung fand er sich und seinen Film im Kreuzfeuer der Kritik wieder. Insbesondere jüdische Verbände beklagten, die Juden seien als blutrünstiges Volk dargestellt worden.
Provokation als Business
In der Popmusik geht es - neben den unvermeidlichen Drogeneskapaden, Pöbel- und Prügeleien, die vom Rock 'n' Roll an den Punk und dann den Hip-Hop weitervererbt wurden - immer noch um Sex. Im kommerziellen Mainstream ist der Skandal auch im 21. Jahrhundert noch lebendig.
Die Popwelt verfügt über jede Menge Personal mit Hang zur Bloßstellung. Wie Miley Cyrus, die ihren Karrieresprung vom Kinder- zum Superstar dem überraschenden Wechsel zu lasziv-vulgären Performances verdankt. Auch Janet Jacksons freigelegtes Brustpiercing in der Superbowl-Halbzeit deutete auf einen Imagewandel hin - oder war das eher unfreiwillig?
Unangefochtene Großmeisterin in der Kunst der Provokation ist Madonna, die in ihren Auftritten und Videos nicht nur die Sexkarte zieht, wie im Clip zu "Justify My Love", sondern auch das konfessionelle Empörungspotenzial abzurufen versteht. Im Clip zu "Like a Prayer" küsst die Sängerin einen dunkelhäutigen Jesus, bekommt die Wundmale Christi, tanzt vor brennenden Kreuzen und hat auf einem Altar Sex. Das ging nicht nur vielen Kirchenvertretern zu weit, sondern auch Werbepartner Pepsi: Das Unternehmen stoppte die Ausstrahlung des dazugehörigen Spots sofort.
Dass ein lesbischer Zungenkuss mit Britney Spears bei den MTV Awards 2003 Madonnas größter Skandal wurde, kann man wohl nur vor dem Hintergrund eines zunehmend puritanischen Amerikas verstehen. Larry Rudolph, Britney Spears' damaliger Manager, verriet später, wie die berühmte Knutschaktion einstudiert wurde. Als er Madonna wiedertraf, "gab sie mir einen dicken Kuss und sagte: 'Siehst du, Larry, es hat sich gelohnt.'"
Die Popwelt verfügt über jede Menge Personal mit Hang zur Bloßstellung. Wie Miley Cyrus, die ihren Karrieresprung vom Kinder- zum Superstar dem überraschenden Wechsel zu lasziv-vulgären Performances verdankt. Auch Janet Jacksons freigelegtes Brustpiercing in der Superbowl-Halbzeit deutete auf einen Imagewandel hin - oder war das eher unfreiwillig?
Unangefochtene Großmeisterin in der Kunst der Provokation ist Madonna, die in ihren Auftritten und Videos nicht nur die Sexkarte zieht, wie im Clip zu "Justify My Love", sondern auch das konfessionelle Empörungspotenzial abzurufen versteht. Im Clip zu "Like a Prayer" küsst die Sängerin einen dunkelhäutigen Jesus, bekommt die Wundmale Christi, tanzt vor brennenden Kreuzen und hat auf einem Altar Sex. Das ging nicht nur vielen Kirchenvertretern zu weit, sondern auch Werbepartner Pepsi: Das Unternehmen stoppte die Ausstrahlung des dazugehörigen Spots sofort.
Dass ein lesbischer Zungenkuss mit Britney Spears bei den MTV Awards 2003 Madonnas größter Skandal wurde, kann man wohl nur vor dem Hintergrund eines zunehmend puritanischen Amerikas verstehen. Larry Rudolph, Britney Spears' damaliger Manager, verriet später, wie die berühmte Knutschaktion einstudiert wurde. Als er Madonna wiedertraf, "gab sie mir einen dicken Kuss und sagte: 'Siehst du, Larry, es hat sich gelohnt.'"
Was hat die Queen mit den Sex Pistols zu tun?
Von ganz anderer Qualität war die brillant inszenierte und kalkulierte Attacke der Sex Pistols zum silbernen Kronjubiläum von Königin Elizabeth II. Mit ihrer Anarcho-Single "God Save the Queen" schafften es die Punks 1977 auf Platz eins der britischen Charts, obwohl der Song nicht im Radio gespielt werden durfte. Allerdings lief die Sache aus dem Ruder, aufgrund von Morddrohungen musste die Band kurzzeitig abtauchen. Später wählte das "Q Magazine" die Single auf Platz drei der "100 Lieder, die die Welt verändert haben".
Das Beispiel Sex Pistols, die zu Plattenmillionären wurden, zeigt allerdings auch, wie im beginnenden Medienzeitalter Skandal und Erregung immer mehr zur Ware werden und schließlich zum Geschäftsmodell mit angedocktem Shitstorm. Gut für Start-ups, aber bedeutungslos für die Gesellschaft.
Umso schöner ist es im "Summer of Scandals", ein Rebellenoriginal als Gastgeber zu erleben. Iggy Pop, Vorbild der Punkszene, hat sein Image bis heute konserviert. "Wer könnte besser durch diesen Schwerpunkt führen als jemand, der Theoretiker, Praktiker und Ikone des Skandals in einer Person ist", sagt Arte-Programmchef Alain Le Diberder.
Iggy Pop erregte mit Bühnenshows Aufmerksamkeit, bei denen er sich Schnittwunden zufügte. Nächstes Jahr wird er 70 Jahre alt.
Heiko Schulze
Das Beispiel Sex Pistols, die zu Plattenmillionären wurden, zeigt allerdings auch, wie im beginnenden Medienzeitalter Skandal und Erregung immer mehr zur Ware werden und schließlich zum Geschäftsmodell mit angedocktem Shitstorm. Gut für Start-ups, aber bedeutungslos für die Gesellschaft.
Umso schöner ist es im "Summer of Scandals", ein Rebellenoriginal als Gastgeber zu erleben. Iggy Pop, Vorbild der Punkszene, hat sein Image bis heute konserviert. "Wer könnte besser durch diesen Schwerpunkt führen als jemand, der Theoretiker, Praktiker und Ikone des Skandals in einer Person ist", sagt Arte-Programmchef Alain Le Diberder.
Iggy Pop erregte mit Bühnenshows Aufmerksamkeit, bei denen er sich Schnittwunden zufügte. Nächstes Jahr wird er 70 Jahre alt.
Heiko Schulze