Es gibt einen Sender, der sich nicht vorm Fußball duckt
Während der Fußball-WM glüht auch bei mir zu Hause der Fernseher. Ich klinke mich aber oft aus und nutze das Zweitgerät - falls das Wetter schlecht ist. Fast alle Sender kapitulieren vor der WM, zeigen fast nur Wiederholungen. Arte nicht. Ungerührt zeigt der Kulturkanal Erstausstrahlungen, die oft nachdenklich machen. Den Themenabend: Krise als Geschäft (12.6., Arte, 20.15 Uhr) habe ich mir vorgemerkt. Wenn mit Kriegen Geld zu verdienen ist, wie handeln dann Konzerne, die stets auf Wachstum aus sind? Jutta Pinzler untersucht im ersten Film des Abends Armeen im Griff der Konzerne, wie sich Privatisierungen in der Landesverteidigung auswirken. Es folgt Türsteher Europas - Wie Afrika Flüchtlinge stoppen soll (12.6., Arte, 21.45 Uhr). Diktaturen wie Sudan und Eritrea erhalten von Europa mehrere Milliarden Euro, um Menschen an der Flucht zu hindern. Jan Schäfer und Simone Schlindwein erforschen in Afrika, wie die EU ihre Migrationspolitik dort umsetzt. Wesentlich entspannter wird's, wenn Wolfgang Niedecken in den USA Bob Dylans Amerika nachspürt (5 Teile, 18.6. bis 22.6., Arte, 17.10 Uhr). Sein Idol selbst trifft er nicht, aber Weggefährten. Etwa in New York, wo Dylans Karriere 1961 begann, oder in Washington, wo er 1963 mit Martin Luther King auftrat, als der vor 250 000 Amerikanern seine "I Have a Dream"-Rede hielt.
...empfiehlt: Marion Meinold
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Lieber Storys von der Straße als Spiele vom Rasen
Zugegeben: Als ich noch ein Teenager war, fand ich Flaggen ins Gesicht schmieren und "Tor" grölen cool. So cool wie Baggy Jeans anziehen oder Musikvideos auf MTV gucken. Immerhin eines davon hält mich noch vor dem TV: The Defiant Ones (Netflix). Ist zwar kein Musikclip, aber eine Musikdoku über Rapper Dr. Dre und Jimmy Iovine. Letzterer produzierte Hitalben u. a. für Patti Smith, U2 und Bruce Springsteen, gemeinsam wurden sie durch den Verkauf von Kopfhörern (Beats by Dre) zu Milliardären. Für den Zuschauer gibt's in vier Episoden ein wenig Beats-PR, jedoch auch grandiose Musik, historische Aufnahmen und Interviews mit verrückten Stars, die sich vom US-Bordstein zur World-Skyline hochgearbeitet haben. True story! So true wie (leider) auch der spannende und erschütternde Dreiteiler Three Girls (14.6., Arte, 20.15 Uhr). Das Drama spielt in England, wo eine Mädchenbande von Pakistanis missbraucht und auf den Strich geschickt wird. Glauben will den 13-Jährigen keiner... Regisseurin Philippa Lowthorpe ("The Crown") spart netterweise an detaillierten Vergewaltigungsszenen, allerdings nicht an authentischen Darstellerinnen. "Bingen" lohnt sich hier ebenfalls. Ergo: Echte/Aufregende Geschichten passieren auf der Straße. Bei Sommermärchen mag das anders sein...
... sagt: Nadja Dilger
... sagt: Nadja Dilger
Echte Helden sind sowieso unbezahlbar...
Es gab mal eine deutsche Filmzeitschrift, in der nicht nur Filme rezensiert wurden, sondern auch Fußballspiele. Damit wollte man wohl zum Ausdruck bringen, dass man kein intellektuelles Weichei ist, sondern ein ganzer Kerl. Ich (Sohn eines Fußballfanatikers, der jede zweite Mark in seinen Lieblingsverein stopfte) habe dieses Problem nicht, ich sage ganz offen: Ich schreibe gern über Filme, hasse Fußball aus tiefster Seele, und was man von mir hält, ist mir sowieso wurscht. (Fast) alles am Fußball ist mir zuwider. Zum Beispiel das ohrenbetäubende Gejohle und Gegröle im Stadion oder die Selbstbesoffenheit seiner Fans. Was natürlich nur Probleme aus der Abteilung Ästhetik und Kommunikation sind, wichtiger sind Politik und Kommerz: Am schlimmsten finde ich die obszön hohen Gagen, die heute im Profisport gezahlt werden. Reine Perversion! Die Fußballspieler selbst machen bestimmt einen guten Job, aber dass der mit zig Millionen pro Nase vergoldet wird, finde ich zum Kotzen, so viel kann (Bein-)Arbeit einfach nicht wert sein. So freue ich mich denn auf mein ganz persönliches Kontrastprogramm Megamind (16.6., Sat.1, 20.15 Uhr). Die Superhelden und -schurken dieses herrlichen digitalen Trickfilms leisten ebenfalls Großes, sie zerkloppen Städte und retten die Welt. Und was kriegen sie dafür? Nichts, null, niente! So geht es also auch! (Nur mal so, als Idee...)
...meint: Peter Clasen
...meint: Peter Clasen
Großes Drama geht auch ohne große Gesten
Zumindest in einem ähneln sich Film und Fußball sehr: Schauspieler stehen im Vordergrund. Fällt beim Ballsport einer auf den Rasen, muss er schreien, heulen und sich so lange winden, bis er endlich seinen Freistoß kriegt. Ich fand das schon immer albern, wenn gestandene Männer wie bockige Dreijährige auf dem Boden rollen - und gucke mir lieber echtes Drama an: Die Serie The Deuce (immer mittwochs, Sky Atlantic, 20.15 Uhr) erzählt schonungslos ehrlich und ohne Übertreibungen von der aufblühenden Pornobranche im New York der 70er und davon, was Prostitution den Menschen antut. Da braucht ein James Franco keine Theatralik und weckt trotzdem alle Emotionen.
...findet: Michael Hille
...findet: Michael Hille
Mach's noch einmal, Walt!
Genau zehn Jahre ist es her, dass ich die erste Folge von Breaking Bad sah. Auf krummen digitalen Pfaden hatte sie den Weg auf meinen PC-Bildschirm gefunden. Vor genau fünf Jahren sah ich atemlos die Finalfolge - nun legal, aber reichlich verruckelt via Streaming. Jetzt werde ich mir die beste Serie aller Zeiten endlich noch einmal gönnen. Bei Netflix. In HD und am Stück, so wie man einen großen Roman liest ("Schuld und Sühne" war ursprünglich auch ein Fortsetzungsroman!). Jeden Abend zwei Episoden, macht 62 Folgen an 31 WM-Tagen. Es geht genau auf, das haben der Serien- und der Fußballgott wunderbar eingerichtet. Übrig bleibt nur der 32. Tag der Meisterschaft, das Finale. Aber da vergesse sogar ich für zwei Stunden, dass mich Fußball nicht interessiert.
... sagt: Christian Holst
... sagt: Christian Holst
Nach dem Spiel ist vor dem Film
Ich bin das Gegenteil eines Fußballmuffels. Auch diese Weltmeisterschaft werde ich exzessiv vor dem heimischen TV zelebrieren. Aber selbst der größte Rasenfanatiker braucht mal eine Pause von dem ganzen Fahnengeschwenke. Manche greifen dann zum Snickers, ich blättere durch das Nachtprogramm der Sender. Denn dort finden sich nicht selten so verspielte wie liebenswerte Low-Budget-Produktionen, die mich nach einem hitzigen Torfestival wieder auf Zimmertemperatur bringen. Eines dieser filmischen Sahnehäubchen ist für mich Morris aus Amerika (19.6., Das Erste, 1.10 Uhr). Die unter anderem in Heidelberg gedrehte deutsch-amerikanische Coming-of-Age-Story steht, dank Feel-good-Trailer, schon lange auf meiner Must-watch-Liste.
...meint: Max Fischer
...meint: Max Fischer
Nieder mit der Diktatur der Algorithmen!
Auf dem Rasen setzt sich durch, wer am besten aufgestellt ist, im Film siegt, wer am kreativsten alles umstürzt. Polder - Tokyo Heidi (12.6., Das Erste, 0.35 Uhr) sprengt gleich eine ganze Reihe von Konventionen. Am Anfang hat man keine Ahnung, um was es eigentlich geht: Das ist schon mal ein gutes Zeichen. Erst allmählich erschließt sich, dass ein Programmierer (schön irre: Christoph Bach) ein gefährliches Virtual-Reality-Spiel entwickelt hat, bei dem sich Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden lassen. Vergangenheit und Gegenwart, Fakten und Fiktionen überlappen sich im Film. Figuren wie aus einem Manga-Comic poppen auf, grelle Farben wechseln sich mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen ab, es flackert und flimmert. Nieder mit der Diktatur der Algorithmen, es lebe die visuelle Anarchie!
...fordert: Rainer Unruh
...fordert: Rainer Unruh