Minutenlang verharrt die Kamera auf ihrem Gesicht. Blassblaue Augen, gerötete Ränder, ein Kratzer auf der Stirn erzählt von einem Kampf gegen wen oder was auch immer. Physische Gewalt, Gewissenskonflikt, moralisches Dilemma? Was geht in dieser Frau vor?

Wie Andrea Riseborough als IRA-Aktivis­tin den Kinothriller Shadow Dancer eröffnet, ist rätselhaft, faszinierend und lange Zeit ohne Worte. Eine volle Viertelstunde folgt man ihr in die Londoner Metro, wo sie an einer Station eine Tasche ablegt, von Zivilfahndern festgenommen wird und kurz darauf Clive Owen als MI5-Agent im Verhör gegenübersitzt. Dann endlich: "Fuck off."

Die Schauspielerin Andrea Louise Rise­borough muss nicht viel reden, um viel zu sagen. Leinwandpräsenz nennt man diese Gabe, mit der sie reich beschenkt wurde. Es genügt schon, wenn die Kamera sie nur entdeckt. Von da an bestimmt sie alles Weitere, unabhängig davon, wie viel Raum man ihrer Rolle ursprünglich zukommen lassen wollte oder wie oft sie noch auftaucht.
Ein Beispiel dafür ist ihre kühle Kommandantin Victoria im Kinohit Oblivion, wo es der 31-Jährigen trotz aller Zurückgenommenheit ein Leichtes scheint, mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen als Tom Cruise' eigentliche Filmgefährtin Olga Kurylenko.

Aura und Ausbildung

Dass die bemerkenswerte Britin derzeit von Kritikern und Kinofans gleichermaßen wie eine Offenbarung bejubelt wird, ist letztlich nicht allein ihrer Ausstrahlung geschuldet. Auf dem Fundament einer klassischen Schau­spielausbildung braucht es ihre bedingungslose Hingabe an die Sache, ein gehöriges Selbstvertrauen und viel Arbeit, um diese Aura zum Leuchten zu bringen. Klingt erst einmal anstrengend, ist für Andrea Riseborough aber kein Problem. "Ich liebe es, hart zu arbeiten. Wäre ich keine Schauspielerin, wäre ich Schriftstellerin geworden."

Die Frau ist nicht aus Watte, dafür steht schon ihre Herkunft. Geboren und aufgewachsen als Tochter eines Gebrauchtwagenhändlers in Wallsend in der Nähe von Newcastle. Am Hadrianswall im hohen und rauen Norden Englands, wo es für die Römer einst nicht mehr weiterging, nahm die Karriere des derzeit begabtesten Leinwandtalents auf der Insel ihren Anfang. Zunächst in Nebenrollen wie in Mike Leighs Komödie Happy-Go-Lucky und als streikende Ford-Arbei­terin in We Want Sex - beide Male an der Seite von Sally Hawkins. Auf der Berlinale 2011 noch in der Nachwuchskategorie European Shooting Star ausgezeichnet, ist sie längst dabei, sich einen Stammplatz am Hollywood-Himmel zu erspielen.

Zum Beispiel als Wallis Simpson in Madonnas zweiter Regiearbeit W. E.. Der Film handelt von der Affäre zwischen Edward VIII. und der charismatischen Amerikanerin, die den britischen König 1936 zur Abdankung ver­anlasste - eine der bewegendsten Liebesgeschichten des vergangenen Jahrhunderts.

Madonna war hingerissen von ihrer Darstellerin - und umgekehrt. "Am Set suchte
sie allmorgendlich Schmuck und Schuhe aus, die ich in der jeweiligen Szene tragen sollte. Es war wie ein kleines Ritual."

Bei Filmangeboten ist die Riseborough wählerisch; ob Blockbuster oder Independentfilm, macht für sie aber keinen Unterschied. "Klar, man hätte oft gern mehr Geld und mehr Zeit. Aber eigentlich geht es beim Film um etwas anderes, nämlich mit anderen einen heiligen Raum zu erschaffen, in dem etwas Großes entstehen kann."

In "Shadow Dancer" scheint das gelungen zu sein. An­drea Riseboroughs Performance jedenfalls ist atemberaubend, klar.

H. Schulze