Algorithmus. Wann immer sich jemand mit dem Erfolg von Netflix beschäftigt, fällt dieses Wort. Als würde der Streamingriese nichts anderes tun, als mittels einer mathematischer Zauberformel die Vorlieben seiner Kunden zu analysieren, um dann zu produzieren, was dem Nutzer todsicher gefällt.

Die Abonnenten mögen Politthriller und David-Fincher-Filme? Warum dreht Fincher nicht "House of Cards" für uns? Filme über die britische Krone sind gerade angesagt? Lasst uns eine Serie über Königin Elizabeth II. in Auftrag geben! Wenn es so einfach wäre. Netflix versichert uns: "Wir nutzen unsere Daten nicht, um Inhalte zu bestellen."

Dass der Streamingdienst ein ureigenes Interesse daran hat, nicht als gesichtslose Datenkrake wahrgenommen zu werden, ist auch klar. Doch die Aussage wird durch einen Artikel im Magazin "The New Yorker" gestützt, der vor zwei Jahren den wahren Algorithmus ausgemacht haben will: "Seine Name ist Ted Sarandos."

Daten versus Bauchgefühl

Sarandos stieß 2000, ein Jahr nach der Gründung, zu Netflix und ist seither als Chief Content Officer in erster Linie für die Eigenproduktionen verantwortlich. Als wir den 52-Jährigen in Berlin fragen, wie groß der Einfluss der Daten auf neue Serien ist, gibt er interessante Einblicke in die internen Abläufe. "Ich nenne die Methode, von Daten beeinflusste Ahnungen‘. Es beginnt damit, dass wir von einer Serie besonders angetan sind. Die Daten benutzen wir dann nur, um herauszufinden, was für ein Potenzial diese Serie hat und wie viel Geld wir in die Produktion hineinstecken."

Doch was, wenn das statistische Material und das Bauchgefühl im Widerspruch stehen? "Ich sage meinem Team immer, dass ich Leute brauche, die klug genug sind, die Daten zu verstehen, und intuitiv genug sind, um zu wissen, wann man sie ignorieren sollte", sagt Sarandos lachend. Ein Beispiel für einen Fall, in dem das Bauchgefühl die Oberhand behielt, ist die Mysteryserie "Stranger Things". Der Überraschungshit des letzten Jahres war kein Selbstläufer - im Gegenteil. Die Brüder Matt und Ross Duffer hatten ihre Idee bereits 18 Sendern vorgestellt und nur Ablehnung bekommen. "Einer der Senderchefs sagte uns knallhart, wir sollten entweder eine Kinderserie daraus machen oder den Sheriff in den Mittelpunkt der Mystery stellen", erinnerte sich Matt Duffer in einem Interview.

Netflix war für sie der 19. Stopp auf ihrer Verkaufstour, und das Team um Ted Sarandos war begeistert. Der Algorithmus allerdings weniger.

Geheimniskrämerei um Abos

"Es kommt ab und an vor, dass wir Daten falsch interpretieren", gesteht Sarandos. "Es gab Fälle, in denen wir dachten, es gäbe ein größeres Publikum für eine Serie, weshalb wir zu viel Geld investiert haben. Und es gab Serien wie ,Stranger Things‘ oder ,Making a Murderer‘, die ein viel größerer Hit wurden, als wir dachten."

Doch was bedeutet großer Hit? "Entscheidend ist, ob die Kritiken gut sind, Preise gewonnen werden, die Leute positive Verbindungen zu Netflix ziehen und genügend Zuschauer einschalten", gibt sich Sarandos bewusst vage. Denn insbesondere die Zuschauerzahlen hütet der Abrufgigant wie Coca-Cola sein Rezept. Nicht einmal die Kreativen erfahren, wie häufig ihre Serien geschaut wurden. Und wenn Netflix die Abonnentenzahlen nennt, schlüsselt man sie grundsätzlich in so große geografische Bereiche auf, dass niemand daraus ableiten kann, ob der Anbieter in einem Land hinter den Erwartungen zurückbleibt. "Wir haben zusammen 40 Millionen Abonnenten in Lateinamerika und Europa", ist die genaueste Information, die man Sarandos über den Erfolg in Deutschland entlocken kann.

Der Weg nach Europa

Der deutsche Markt galt jahrelang als einer der schwierigsten für neue Fernsehanbieter, weshalb sich Netflix auch bis 2014 Zeit ließ, hier ein eigenes Angebot zu starten. "Deutsche mögen viele Dinge, mit denen niemand anderes etwas anfangen kann, war eins der alten Vorurteile", sagt Sarandos. "Aber ich denke, unser Erfolg in Deutschland liegt darin,
dass wir eben nicht dieser gängigen Meinung gefolgt sind. Deutsche mögen auch sehr viele Dinge, die alle anderen mögen."

Aus diesem Grund hat Netflix im letzten Jahr mit "Dark" seine erste deutsche Produktion in Auftrag gegeben. Der Mysterythriller von den "Who Am I"-Machern Baran bo Odar und Jantje Friese gehört zur steigenden Zahl europäischer Produktionen, die in Zukunft die Programmpalette bereichern sollen. 90 Serien werden aktuell auf dem Kontinent produziert und sollen dem individuellen Charakter der einzelnen Länder gerecht werden.

"Je mehr man alles homogenisiert, desto weniger wird es angenommen", weiß Ted Sarandos. "Großes, authentisches Geschichtenerzählen überspringt dagegen die Grenzen." Daher sieht sich Netflix nicht als Konkurrenz des Fernsehens, sondern als Ergänzung. Dafür spricht auch, dass Sarandos verstärkt mit dem ZDF zusammenarbeiten will. Wie bei der Miniserie "Der gleiche Himmel" oder der Kinderserie "Eine lausige Hexe", die das ZDF und Netflix co-finanzierten. "Statt nach den Dreharbeiten Käufer zu suchen, bekommt das ZDF von uns das Geld vorab und kann die Filme besser ausstatten. Eine Win-win-Situation", nennt das Businessmann Sarandos.

In einigen Jahren werden wir wissen, ob der fleischgewordene Algorithmus recht behalten hat.

Autor: Rüdiger Meyer