Die Nummer eins

Die Welt feiert Mexikos Torwart Guillermo Ochoa. Der Mann brachte Brasiliens Stürmer zur Verzweiflung. Er fischte die Bälle aus den den umöglichsten Winkeln. Wie ein Superheld aus einer Marvel-Verfilmung schien er über mehr als sechs Arme und acht Hände zu verfügen.

Torhüter stehen meist nicht im Mittelpunkt von Live-Übertragungen. Die Kamera folgt dem, was sich bewegt. Und das sind der Ball und die Feldspieler. Ist die Abwehr gut, hat der Torwart einen ruhigen Abend. Die Männer zwischen den Pfosten sind auch privat oft stoische Typen. Sie ertragen es, von Stürmern getreten und geschubst zu werden. "Alles, was ich über Moral weiß, verdanke ich dem Fußball", hat der Amateur-Torwart und Profi-Literat Albert Camus einmal gesagt. Aber manchmal sind es die Männer mit der 1 auf dem Rücken satt, auch noch die andere Wange hinzuhalten oder wie der legendäre Bert Trautmann 1956 die letzten 16 Minuten des Endspiels um den britischen FA Cup mit Genickbruch zu spielen. Dann bricht die Wut über eine ungerechte Welt, in der sich notorische Schummler auf die "Hand Gottes" berufen, um ihre fiesen Tricks zu kaschieren, mit der Gewalt eines Vulkans aus ihnen heraus. Toni Schumachers Foul an Patrick Battiston beim WM-Halbfinale in Sevilla am 8. Juli 1982 hätte auch "Man of Steel"-Regisseur Zack Snyder nicht besser choreographieren können.

Man muss diese Ausraster nicht biligen, aber man kann sie verstehen, ähnlich wie die Rachefeldzüge von Robert De Niro in "Taxi Driver" oder von Michael Douglas in "Falling Down". Geht das Spiel schlecht aus, ist der Torwart meist der Sündenbock. In Brasilien gilt Moacir Barbosa noch heute als Megaversager. Dabei war er einer der besten Torhüter der WM 1950. Dummerweise ließ er im Endspiel gegen Uruguay vor 200 000 Zuschauern im Maracana-Stadion zwei Treffer zu. Zu Hause. Gegen den Erzrivalen. Was für eine Schande. Als ein BBC-Team 43 Jahre später mit Barbosa ein Trainingscamp der brasilianischen Fußballnationalmannschaft aufsuchen wollten, wurden sie abgewiesen, als habe Barbosa eine ansteckende Krankheit.

Auf Fußballern lastet heute ein ähnlicher Druck wie auf Hollywoodschauspielern. Statt Männern wie Robert Enke oder Heath Ledger ein Requiescat in pace hinterherzurufen, wenn sie schon längst unter dem Rasen liegen, sollte man ihnen besser zu Lebzeiten mehr Ruhe gönnen.

Rainer Unruh