Frankreich am 1. Juli 2006: Die ganze Nation blickt gebannt nach Frankfurt am Main, wo sich "Les Bleus" im WM-Viertelfinale mit Brasilien messen. Mitten in diesen Taumel gerät Tony Hughes (James Nesbitt), der nach einer Autopanne mit Ehefrau Emily (Frances O'Connor) und seinem fünfjährigen Sohn Olly im Städtchen Châlons du Bois gestrandet
ist. Nach einem spätabendlichen Badeausflug schlängelt sich Tony mit Olly durch eine Masse von Fußballfans - gerade als Thierry Henry zum 1:0 einschießt. Nur für eine Sekunde lässt Tony die Hand des Jungen los... und sieht ihn nie wieder. Die Panik, die den Vater bei der verzweifelten Suche ergreift, lässt die Zuschauer auch noch Stunden nach der ersten Folge nicht mehr los - besonders wenn sie selbst Eltern sind.

In gewisser Weise ist die Prämisse von "The Missing" deutlich unbequemer als beispielsweise bei der ebenso herausragenden britischen Serie "Broadchurch", die mit dem Fund einer Kinderleiche an einem Strand beginnt. Denn "The Missing" hat ein Krimielement, das bei Mordfällen fehlt: Hoffnung. Und um Friedrich Nietzsche zu bemühen:

"Hoffnung ist in Wahrheit das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert."

Acht Jahre Ungewissheit

Die Folgen dieser Qual macht "The Missing" mehr als deutlich, denn die Serie setzt acht Jahre nach der Entführung des Jungen ein. Die Ehe der Hughes ist längst gescheitert: zerbrochen an Tonys Selbstvorwürfen und seiner Unfähigkeit, ein neues Leben zu beginnen. Während Emily ein neues Glück gefunden hat (ausgerechnet mit einem englischen
Polizisten, der während der Entführung erster Ansprechpartner der Familie war), ist Tony immer noch besessen davon, seinen Sohn zu finden. Als er ein Foto aus Châlons du Bois entdeckt, auf dem ein anderes Kind Ollys Schal trägt, reist er an den Ort der Entführung zurück. Sehr zum Missfallen der Bevölkerung versucht Tony, die Ermittlungen wieder anzuschieben, aber im mittlerweile pensionierten Ermittler Julien Baptiste (Tchéky Karyo) findet er einen Verbündeten.

Der Krimi weckt Erinnerungen an die 2007 verschwundene Madeleine McCann, auch wenn Hauptdarsteller James Nesbitt versichert: "Es hat nichts mit ihrem Fall zu tun." Das sagen auch die Autoren Jack und Harry Williams. Die Brüder fanden das Vorbild für die Serie nämlich durch ihren Vater. 2008 drehte der Dramatiker Nigel Williams die BBC-Dokumentation "Dance with a Serial Killer" über den französischen Polizisten Jean-François Abgrall, der jahrelang den Serienmörder Francis Heaulme jagte.

In "The Missing" ist der Ermittler Julien Baptiste an Abgrall angelehnt. Dass dieser in "The Missing" ein Kind sucht, hängt auch mit den alarmierenden Kriminalstatistiken zusammen.

Tausendfaches Trauma

Tatsächlich verschwinden allein in Großbritannien jedes Jahr 140 000 Kinder und Jugendliche. 91 Prozent der Fälle werden innerhalb von 48 Stunden gelöst, 99 Prozent sind im Lauf eines Jahres positiv oder negativ geklärt. Aber dies bedeutet immer noch, dass sich jedes Jahr fast 1500 Elternpaare für lange Zeit in einem Zustand der völligen Ungewissheit befinden. Was dies in ihnen auslöst, zeigt "The Missing" auf so beklemmende Art, dass die Serie für sensible Mütter und Väter nur schwer zu ertragen ist. Das geht selbst den Stars nicht anders.

"Ich hatte gedacht, dass ich auf meine eigenen Erfahrungen als Vater zurückgreifen könnte", erinnert sich Nesbitt. Aber selbst die Vorstellung wurde für ihn unerträglich. "Am Ende war es besser, mich einfach auf Tony zu konzentrieren, statt mir vorzustellen, wie es wäre, eine meiner Töchter zu verlieren." Auch Co-Star Frances O'Connor ging das Thema an die Nieren. Sie wollte zur Recherche ein Buch über Kindesentführung lesen, brach es aber schnell wieder ab. Auch der Dreh forderte seinen Tribut: "Wenn ich freitags nach London zurückkehrte - wir drehten in Belgien -, bin ich manchmal in Tränen ausgebrochen, sobald ich durch die Tür war."

Damit sich der Effekt beim Zuschauer nicht einstellt, versuchen die Macher, das Thema nicht auszubeuten. Das Verschwinden des Jungen ist Katalysator der Serie, wird aber nie dargestellt. Nur deshalb blieben sieben Millionen Briten Woche für Woche dabei. Mit dem sich zum zehnten Mal jährenden Verschwinden von Madeleine McCann und dem neuen Interesse an dem Fall erhält auch "The Missing" eine zusätzliche Aktualität - obwohl die erste Staffel bereits 2014 gedreht wurde.

Aufgrund des Erfolgs gab es 2016 eine Fortsetzung, in der man allerdings auf James Nesbitt verzichten musste. Einziges Bindeglied zur ersten Staffel ist Tchéky Karyo, der dieses Mal aber kein verschwundenes Kind sucht. Stattdessen taucht ein entführtes Mädchen wieder auf, und Julien Baptiste sowie die Eltern versuchen, die Lücken der letzten elf Jahre zu füllen. Ein Happy End, ja. Aber auf Bier und Chips sollte man dennoch verzichten.

Autor: Rüdiger Meyer