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"Leben am Limit: Extremsportler"

Jenseits der Komfortzone

Was treibt Extremsportler, immer wieder das Schicksal herauszufordern? Und was fasziniert uns so daran? Eine Doku (MI 07.09., 22.45 Uhr, ARD) aus Österreich liefert Antworten - und spektakuläre Bilder.

Endstation Greenville, Illinois. Noch 1485 Kilometer bis zum Ziel, und bei Gerhard Gulewicz ist der mentale Akku leer. Nichts geht mehr an diesem 21. Juni 2016, obwohl er doch so fest daran geglaubt hatte, am Ende als Sieger vom Rad zu steigen. Nach sechs Tagen, 23 Stunden und 24 Minuten gibt der Österreicher frustriert auf. Wie schon vor fünf Jahren, als ihn der Wiener Filmemacher Sascha Köllnreitner beim Race Across America, dem härtesten Radrennen der Welt, erstmals mit der Kamera begleitet hat. Rund 4800 Kilometer quer durch die Staaten führt die Strecke. Der Schnellste schafft das in unter acht Tagen, bei insgesamt nur etwa sieben Stunden Schlaf.

Extrem? Alles eine Frage der Perspektive. Schließlich hat sich einer wie Gulewicz über einen langen Zeitraum in die Weltspitze der Marathonradfahrer vorgearbeitet. "Hinter diesem Bewegen am Limit, wie wir als Außenstehende es empfinden, steckt bei den Sportlern natürlich eine jahrelange Progression", sagt Köllnreitner.

Drei von ihnen hat er in seinem beeindruckenden Dokumentarfilm "Leben am Li­mit: Extremsportler" porträtiert. Neben Gulewicz den norwegischen Wingsuit­-Flieger Halvor Angvik und Guillaume Néry, einen der weltbesten Apnoetaucher aus Frankreich.
Sich als Individuum erfahren
Überraschend fand Köllnreitner, wie "besonnen, geplant und mit Kalkül" die drei ihre teilweise außergewöhnlich riskanten Vor­haben angegangen sind. Es gibt auch andere Charaktere in der Szene, weiß der Regisseur, aber nach seinen Wissen seien die in der "absoluten Minderheit".

Was sie alle vereint, ist der Wunsch, sich als Individuum wahrzunehmen. Und das Risiko, das sie dafür einzugehen bereit sind. Seit Fertigstellung der Doku 2014 sind vier Extremsportler, die Köllnreitner während der Dreharbeiten getroffen hatte, tödlich verunglückt. Drei Wing­suit­-Flieger und eine Apnoetaucherin, die russische Weltrekordhalterin Natalja Moltschanowa.

Um seine drei sportlichen Gratwanderer, zu denen er noch heute Kontakt hält, hat sich der Filmemacher allerdings nie große Sorgen gemacht. "Ich habe die Sportler für meine Doku sehr bewusst ausgewählt, weil ich Protagonisten wollte, die sich sehr wohl eingehende Gedanken über sich selbst und ihr Tun machen." Ging es ihm doch darum, Extremsport als Spiegel der Gesellschaft zu zeigen.

"Parallelen zum Ri­siko, zur Risikobereitschaft im Alltag, also auch im Business­bereich, waren von Anfang an ein zentraler Aspekt des Projekts." Frei nach einem Zitat des Philosophen Jürgen Habermas, der im Sport die konzentrierte Darstellung der Grundprinzipien unse­rer Gesellschaft sah.
Authentizität und atemberaubende Bilder
Wer bewegt sich warum auf Messers Schneide? Zumindest filmisch war es eine kluge Entscheidung, die Frage nicht CEOs in Nadelstreifen zu stellen, sondern von Extremsportlern und Experten wie der Philosophin und Soziologin Ines Geipel be­antworten zu lassen und das Ganze mit oft atemberaubenden Bildern zu unterlegen.

Beispielsweise vom Wingsuit­ Flieger Angvik, der Köllnreitner aufgefallen war, weil er in einschlägigen Foren mit seinen reflektierten Beiträgen aus der Masse hervorstach. Auf die Frage, was er persönlich extrem finde, antwortet der Norweger in der Doku ohne Zögern:

"Drei Kinder und ein Hund."

Hat es Angvik früher genossen, seine selbstgedrehten und millionenfach geklickten Go-Pro-­Clips bei YouTube hochzuladen, springt er heute immer seltener und nur noch für sich. Er hält den unausgesprochenen Zwang in der Szene, immer näher an die Felsen heranfliegen zu müssen, um noch ein bisschen mehr mediale Aufmerksamkeit zu ergattern, für eine falsche Entwicklung.

Trotzdem hat der Tod auch bei ihm schon an die Tür geklopft. Aber der Regierungsbeamte Ang­vik hatte Glück. Als Massenmörder Anders Breivik im Juli 2011 in Oslo eine Autobombe vor dem Bürogebäude des Ministerpräsi­denten zündete, war der Extremsportler gerade nicht am Platz. Er hatte sich freigenommen und stand auf einer Klippe, um sich mal wieder im Fledermausanzug in die Tiefe zu stürzen.

"Sein Büro im ersten Stock wurde völlig zerstört", erinnert sich Köllnreit­ner. "Sechs Wochen zuvor haben wir in einem Café in der Nähe noch über die Risiken seines Sports philosophiert. Viel deutlicher kann die Ironie des Lebens nicht sein."

F. Steinberg