Das Thema war lange tabu: Als die Rote Armee im April 1945 in Berlin einmarschierte, wurden Frauen zu Freiwild. Vergewaltigungen gehörten fortan zum Alltag. Über ihr Ausmaß gibt es nur Schätzungen. Die Historikerin Ingeborg Jacobs schreibt, dass während des Vormarsches der Roten Armee bis zu zweieinhalb Millionen Frauen und Mädchen vergewaltigt worden sein sollen, davon allein in Berlin zwischen April und September 1945 bis zu 130 000 Menschen.

Keine leichte Aufgabe für Nina Hoss, eine solche Frau zu spielen. Der ZDF-Zweiteiler ist gegenüber dem Kinofilm um Rückblenden erweitert und entsprechend länger, aber inhaltlich mit dem Leinwand-Werk identisch. Kino- und Fernsehfilm beruhen auf derselben Grundlage, den 2003 anonym erschienenen Tagebuchaufzeichnungen von Marta Hillers über ihre Zeit in Berlin vom 20. April bis 22. Juni 1945

TV SPIELFILM Sie verköpern eine Frau, die mehrmals vergewaltigt wird. Fiel es Ihnen schwer, diese Szenen zu spielen?

NINA HOSS Die ganze Thematik geht einem an die Nieren, nicht so sehr die Vergewaltigungsszenen an sich. Seltsamerweise ist es gar nicht so schlimm, eine solche Szene zu drehen. Man ist da ganz Profi. Ich weiss genau, dass es meinem männlichen Schauspielpartner genauso unangenehm wie mir ist, diese Szenen zu spielen. Es gibt da so eine unausgesprochene Verabredung, dass wir die Szene möglichst schnell und professionell hinter uns bringen, denn keiner hat Lust, sie zu wiederholen. Meist klappt das auch, denn jeder weiß, dass man sich dafür in einen emotionalen Zustand versetzt, in dem man sich nicht gern lange aufhält. Insgesamt waren die drei Monate Drehzeit schon belastend. Ich konnte mich kaum entspannen, stand ständig unter Druck.

TV SPIELFILM Die einzige Szene, die ich als entspannt empfand, ist die, als sich die Frauen versammeln, selbst gebackenen Apfelkuchen essen und mit Galgenhumor über ihre "Beschützer" lästern...

NINA HOSS Ja, ich finde es beeindruckend, wie es den Frauen gelingt, einen Umgang mit dem Thema zu finden. Es steht ja auch in der Romanvorlage, dass die Frauen einen schwarzen Humor entwickelt haben, um sich über ihr Schicksal zu verständigen. Man hat die Täter lächerlich gemacht, damit man die Misshandlungen besser ertragen konnte. Man muss auch keine Angst vor dem Film haben. Das Thema ist zwar düster, aber wir haben ja keinen Horrorfilm gedreht, sondern ein Stück Zeitgeschichte in Szene gesetzt.

TV SPIELFILM Nicht alle Frauen haben ihr Schicksal so souverän gemeistert wie Anonyma...

NINA HOSS Nein, es haben sich viele Frauen das Leben genommen. Man schätzt, dass bis zu 5000 Frauen in den Freitod gegangen sind.

TV SPIELFILM Warum überlebt Anonyma?

NINA HOSS Sie ist in der Lage, die Situation relativ kühl zu analysieren. Anonyma weiß, dass sie nur dann überleben kann, wenn sie sich einen Beschützer sucht. Und der beste Beschützer ist der ranghöchste Wolf im Rudel. Der hält einem die anderen Wölfe vom Leib. Außerdem hat sie sich innerlich gepanzert. Im Tagebuch steht ein Satz, den ich unglaublich finde: "Mein Ich soll das nicht erleben". Sie trennt also ganz rigide zwischen Geist und Körper. Außerdem war sie im Unterschied zu den meisten Deutschen nicht über die Fremdartigkeit der Soldaten schockiert. Sie kannte Russland, und sie war die Einzige, die in ihrem Umfeld Russisch sprach, was ihr einen gewissen Vorteil verschaffte.

TV SPIELFILM An einer Stelle fragt der sowjetische Offizier Andrej die Deutsche Anonyma, ob sie eine Faschistin sei. Anonyma schweigt. Haben Sie eine Antwort auf die Frage?

NINA HOSS Ich habe mich auch gefragt, wie es eigentlich dazu kam, dass offensichtlich so viele Menschen der Wahnidee verfielen, dass es so etwas wie eine Herrenrasse tatsächlich gibt. Ich habe dazu die Kempowski-Tagebücher und Zuckmayers Geheimreport gelesen, um das besser zu verstehen. Ich glaube, es war auch die euphorisierende Atmosphäre jener Zeit, die ansteckte und der sich viele nicht entziehen konnten. Anonyma weiß darauf auch keine Antwort - jedenfalls nicht in der Szene. Und das ist ja auch schon eine Antwort. Ob Marta Hillers, die Verfasserin des Tagebuchs, tatsächlich nicht wusste, was vor sich ging, kann ich also nicht sicher beantworten.

TV SPIELFILM Haben Sie als Vorbereitung auf den Film mit Frauen gesprochen, die 1945 vergewaltigt wurden?

NINA HOSS Nein, ich habe mir die Dokumentationen angeschaut, die es gibt, etwa von Helke Sander, "BeFreier und Befreite", ein großartiger Film. Als ich die Interviews mit den Frauen sah, konnte ich schon viel von dem verstehen, was sie emotional durchgemacht haben mussten Dann habe ich mir beispielsweise eine unglaublich gnadenlose Dokumentation über das Lager Omarska in Ex-Jugoslawien angesehen, weil es Vergewaltigungen im Krieg ja nicht nur damals gab. Vergewaltigungen sind nach wie vor ein Kriegsmittel. In der Doku erzählte eine Richterin, was ihr in dem Lager widerfahren ist, und die Art, wie sie das macht, ist ganz nah dran an Anonyma. Die Juristin berichtet außerst kühl, sehr distanziert über das Geschehen im Lager, und man begreift als Zuschauer sofort, dass sie so reden muss, weil sie es sonst nicht ertragen würde. Ich habe versucht, davon etwas in meine Rolle zu übernehmen. Es fällt ja auch bei Anonyma auf, das sie sich immer im Kontext des Kriegsgeschehens sieht und dass sie sagt, ich kann damit nur umgehen, weil es nicht nur mir passiert. Sie bettet ihr persönliches Leiden in das kollektive Geschehen ein und nimmt ihm damit etwas von seinem Gewicht. Jedenfalls haben mir diese Dokus zur Vorbereitung gereicht. Mir war auch die Vorstellung nicht geheuer, mich mit einem Vergewaltigungsopfer zu verabreden, um mir von ihm intime Details erzählen zu lassen, die ich für meine Rolle nutze.

TV SPIELFILM Ist ein Film wie "Anonyma" Wasser auf die Mühlen derjenigen, die deutsches gegen russisches Unrecht aufrechnen?

NINA HOSS Das glaube ich nicht. Max Färberböck hat schon sehr drauf geachtet, dass die Russen nicht als Ungeheuer gezeichnet wurden, sondern dass man von ihnen möglichst vielen Facetten sehen kann. Umgekehrt erzählt ja auch in einer Szene der 17-jährige Soldat, was die Wehrmacht in den eroberten Dörfern angerichtet hat und wie sie dort Kinder ermordet hat. Dadurch kriegt man als Zuschauer ein Gefühl dafür, was die russischen Soldaten durchgemacht und gesehen hatten, bevor sie in Berlin ankamen. Das ist keine Entschuldigung für die Vergewaltigungen, aber es ordnet das Geschehen in den Kriegsverlauf ein. Wahrscheinlich hätte man einen solchen Film vor 20 Jahren gar nicht drehen können, weil die Kriegserfahrung noch zu nah gewesen wäre. Aber was mich eigentlich interessiert, ist, wie es nach 1945 mit den Frauen weiterging, in einer konservativen Gesellschaft, die vom Krieg nichts mehr wissen wollte und erst recht nicht von den Erfahrungen der Frauen.

TV SPIELFILM Marina Koreneva, die Dolmetscherin am Set, hat erzählt, einige der russischen Schauspieler fühlten sich in ihren Rollen zu negativ dargestellt. Wie haben Sie das erlebt?

NINA HOSS Es gab schon eine gewisse Skepsis auf Seiten der russischen Darsteller. Andererseits hatten alle zugesagt, weil es das erste Mal war, dass die Russen in einer internationalen Produktion ihre Geschichte jener Jahre erzählen können und sie das Drehbuch gut fanden. Von daher war klar, dass sie dem Regisseur vertrauen. Allerdings ist es natürlich etwas anderes, wenn du anfängst zu spielen. Dann fragst du dich natürlich: Werde ich auch noch als jemand anders wahrgenommen als der Soldat, der eine Frau vergewaltigt hat? Nicht, dass ich ein lieber Kerl bin, aber dass man die Ausnahmesituation berücksichtigt, den Krieg und seine Brutalisierung, in der ich handele. Für uns Deutsche war interessant, dass es für die Russen Teil ihres Selbstverständnisses ist, dass sie den Krieg gewonnen haben. Da gibt es auch gar nichts zu diskutieren. Das ist etwas, woran sich dieses Land aufbaut. Deswegen liegen an Stalins Grab auch nach wie vor Nelken. Für die russischen Schauspieler kommt hinzu, dass sie ihre Großväter spielen - und die können nichts Böses gemacht haben.

TV SPIELFILM Ich habe mich am Ende des Films gefragt: Warum gibt die Frau, die Sie spielen, eigentlich ihrem heimgekehrten Mann das Tagebuch zu lesen? Hätte sie die Beziehung nicht durch eine Strategie des kommunikativen Beschweigens retten können?

NINA HOSS Ich glaube, weil es keine Worte gibt, ihm das direkt ins Gesicht zu sagen. Gleichzeitig möchte sie, dass er weiß, was sie erlebt hat. Denn das steht zwischen ihnen. Sie wünscht sich, dass er es liest, damit beide hinterher wissen, ob sie noch etwas miteinander anfangen können. In der Beziehung zeigt sie großen Mut, weil sie nicht ermessen kann, wie ihr Mann reagieren wird.

TV SPIELFILM Bezeichnenderweise spricht der Mann gar nicht über seine Erfahrungen im Krieg, obwohl er sich möglicherweise als Täter schuldig gemacht hat...

NINA HOSS Ja, und das hatte natürlich auch damit zu tun, dass die Männer als Verlierer aus dem Krieg heimkehrten, nachdem sie von der Propaganda vorher als Helden verklärt worden waren. Das schreibt ja auch Anonyma, dass sich der Blick auf das männliche Geschlecht geändert hat. Ich glaube, dass die Männer das gespürt haben. Deshalb haben sie ja auch in den Fünfzigerjahren darauf gedrängt, dass die Hierarchien in Familie und Betrieb so wie früher sein sollten, als sei der Krieg nur ein böser Traum gewesen.

TV SPIELFILM Anonyma sagt an einer Stelle, dass der Krieg den Sinn der Wörter verändert habe und dass Liebe im Krieg etwas anderes bedeute als im Frieden. Wie sehen Sie das?

NINA HOSS Anonyma hat sich den Offizier Andrej ausgesucht, damit er sie beschützt.Anonyma wird bewusst, dass er ihr ähnlicher ist als sie dachte.
Er ist ihr sogar sympathisch. Aber die Verbindung kann keine Zukunft haben, weil sie sich in einer Ausnahmesituation begegnet sind. Es ging um das nackte Überleben, und in so einer Situation verändern sich die Begrifflichkeiten tatsächlich. Mit ihrem Mann, der aus dem Krieg heimgekehrt ist, gibt es auch keine Verständigung mehr. Die Erfahrungen, die sie gemacht haben, haben beide verändert. Sie sind nicht mehr dieselben wie vor dem Krieg.

TV SPIELFILM Sie spielen demnächst in einem Vampirfilm mit. Sind Sie diesmal Täterin und nicht nur Opfer?

NINA HOSS Ja, da bin ich eine Böse (lacht). "Wir sind die Nacht" spielt im Berliner Nachtleben. Ich habe eine schräge Rolle in diesem Fantasy-Film, der im Oktober ins Kino kommt.

Rainer Unruh