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Im Interview: Steffen Simon & Béla Réthy

"100 Prozent für Deutschland"

SimonRethy
Strand statt Stadion: WDR-Sportchef Steffen Simon (49) und ZDF-Livereporter Béla Réthy (57) beim Shooting in Köln-Rodenkirchen Ruprecht Stempell

Die Kommentatoren Steffen Simon und Béla Réthy über modernen Fußball, das Turnier in Brasilien und ihren Job am Mikro

Foto: Ruprecht Stempell, Strand statt Stadion: WDR-Sportchef Steffen Simon (49) und ZDF-Livereporter Béla Réthy (57) beim Shooting in Köln-Rodenkirchen
"@Steffen: Termin meinerseits bestätigt. Soll ich Dich irgendwo abholen? Bin sowieso mit dem Auto unterwegs. LG BR." Béla Réthys Mail an seinen ARD-Kollegen Steffen Simon vor dem gemeinsamen Treffen mit TV SPIELFILM in Köln ist geradezu ein Musterbeispiel für die enge Zusammen­arbeit zwischen ARD und ZDF bei der WM in Brasilien - mit gemeinsam genutzter Technik und Moderationsplattform.

Am Ende fährt Simon aber doch lieber mit eigenem Auto vor - und Réthy verspätet sich wegen eines Arzttermins. Hier und heute kein Problem. Während des Turniers aber dürfte Pünktlichkeit eine weit wichtigere Rolle spielen.

TV SPIELFILM: Herr Réthy, Sie haben den Großteil Ihrer Kindheit in São Paulo verbracht. Gibt es etwas an Ihnen, das Sie als typisch brasilianisch bezeichnen würden?

BÉLA RÉTHY: Wie Sie sicher bereits ahnen, neige ich nicht zur Überpünktlichkeit, genau wie die Brasilianer. Letzten Sommer kam ich erst zur zweiten Halbzeit des Confed-Cup-Spiels zwischen Brasilien und Mexiko ins Stadion. Genau wie heute allerdings ohne mein Verschulden: Wegen einer Demonstration war die Anfahrt zur Arena praktisch unmöglich. Zum Glück musste ich nicht live kommentieren, sondern war nur für ein paar Interviews angereist.

TV SPIELFILM: Welche Konsequenzen haben Sie aus der Sache gezogen?

BÉLA RÉTHY: Als ich das Endspiel kommentieren musste, war ich fünf­einhalb Stunden vor dem Anpfiff im Stadion! Ich saß da in einem tiefgekühlten Presseraum, stundenlang. Aber in dem Fall konnte ich ja keine Verspätung riskieren. Ich weiß nicht, wie wir das bei der WM machen werden.

STEFFEN SIMON: Giovane Elber, der bei uns als Brasilienexperte mit im Team ist, hat gesagt, wir sollen Geduld mitbringen. Wenn wir mal nicht ankommen, kommen wir halt nicht an. Dann über­nimmt eben ein Kollege in Rio de Janeiro oder Baden-Baden und wird das Ganze vom Schirm kommentieren.
TV SPIELFILM: Was denken Sie: Würde ein sport­lich gelungener Auftakt des Gastgebers die aufgeheizte gesellschaftliche Atmosphäre in Brasilien etwas abkühlen?

STEFFEN SIMON: Wenn man den Confed-Cup als Beispiel heranzieht: nein. Da hat die brasilianische Mannschaft sehr gut gespielt, und trotzdem haben sich die Proteste vor den Stadien entzündet.

BÉLA RÉTHY: Das ist unberechenbar. Große Freude kann ebenso in Gewalt münden wie sportlicher Misserfolg. Das wird also nicht zwingend zusammenhängen. Auf jeden Fall wird es ein sehr unruhiges Turnier, das lässt sich schon jetzt sicher vorhersagen.

TV SPIELFILM: Welches Maß an Parteilichkeit erlauben Sie sich, wenn Sie ein Spiel mit deutscher Beteiligung kommentieren?

BÉLA RÉTHY: Hundert Prozent.

STEFFEN SIMON: Klar! Was den Job eines Fußballkommentators von anderen journalistischen Tätigkeiten stark unterscheidet, ist die Emotionalität. Man sendet aus einem sehr emotionalen Umfeld, nämlich dem Stadion, in ein noch emotionalisierteres hinein, nämlich das Wohnzimmer.

BÉLA RÉTHY: Parteilichkeit bedeutet ja nicht fehlende Fachlichkeit. Wenn die Mannschaft Dinge veranstaltet, die man kritisch anmerken muss, macht man das natürlich. Bei Spielen der deutschen Mannschaft haben Emo­tion und Fachlichkeit ihren Platz nebeneinander.

STEFFEN SIMON: Wenn Deutschland spielt, ist ganz klar, was das Publikum von uns erwartet. Bei nationalen Spielen dagegen muss man sehr aufpassen, dass man kein Lager vor den Kopf stößt.

TV SPIELFILM: Große Fußballnationen haben über die Jahrzehnte klare Profile entwickelt. Welches Bild haben Sie im Kopf, wenn Sie an den deutschen Fußball denken?

BÉLA RÉTHY: Bilder von Aufholjagden. Deutsche Spieler, die erschöpft, aber glücklich auf dem Rasen liegen, nachdem sie irgendwelche Rückstände aufgeholt haben. In Mexiko 1970, im Viertelfinale gegen England zum Beispiel, wo sie einen 0 : 2-Rückstand noch in ein 3 : 2 umgebogen haben. Das ist ein Charakteristikum der deutschen Mannschaft. Dieser absolute Willens- und Mentalitätsfußball, wie ich ihn jetzt mal nennen will, ist heute allerdings nicht mehr typisch.

STEFFEN SIMON: Bei einzelnen Typen ist er aber noch vertreten. Ein Thomas Müller steht schon sehr in der Tradition früherer "Helden". Generell sind die viel zitierten "deutschen Tugenden" heute aber nicht mehr so abrufbar - weil der Bundestrainer sie gar nicht mehr haben will.

TV SPIELFILM: Was verstehen Sie im Fußball denn heute unter typisch deutsch? Bei TV-Experten kommt ja noch gern der Schwenk zu den erwähnten "deutschen Tugenden"...

STEFFEN SIMON: Uns Deutschen sagt man nach, dass wir nie nachlassen. Uns sagt man eine große mentale Härte nach, dass wir knackig in den Zweikampf gehen und verteidigen können - und dass wir am Ende immer gewinnen. (lacht) Aber wie viel deutscher Mythos steckt noch im heutigen Team? Die spielen nicht wie deutsche Mannschaften von früher. Wenn Joachim Löw an seinem Plan festhält, das Spiel in die gegnerische Hälfte zu verlagern, dann spielen wir einen abgewandelten Guardiola-Stil.

BÉLA RÉTHY: Was lange Zeit mit dem deutschen Fußball assoziiert worden ist, wissen junge Leute doch überhaupt nicht mehr. Wer heute kurz vor der Volljährigkeit steht, war beim letzten Titelgewinn einer deutschen Mannschaft 1996 in England ja noch nicht mal auf der Welt!

TV SPIELFILM: Die Nationalmannschaft gehört zum Tafelsilber unseres Landes wie das Bundesverfassungs­gericht. Hat das, möglicherweise unbewusst, nicht zwangsläufig Einfluss auf Ihre Arbeit?

BÉLA RÉTHY: Bei mir ist das so: Wenn der Ball rollt, dann kann da auch Heidenheim spielen oder die Elfenbeinküste, es bleibt immer ein fachliches Arbeiten. Ich glaube jedenfalls fest daran, dass man das nicht überhöhen sollte.

STEFFEN SIMON: Wir müssen aufpassen - nicht nur bei Länderspielen, die Bundesliga schließe ich da mit ein -, dass der Fußball nicht irgendwann eine Bedeutung erhält, der er nicht gerecht werden kann. So nach dem Motto: Die nächste Finanzkrise kommt, wir wissen nicht, wie dramatisch die Situation in der Ukraine wird, aber ein Glück: Wir haben gegen die USA gewonnen und sind im Achtelfinale. Der Fußball wird schon jetzt manchmal auf eine Art und Weise überhöht, die nicht immer gesund scheint.

TV SPIELFILM: Anders als die Millionen Trainer zu Hause können Sie am Mikrofon kaum polemisieren - wann haben Sie sich das letzte Mal so richtig aufgeregt, ohne es sich anmerken zu lassen?

STEFFEN SIMON: Du beim Freundschaftsspiel gegen Polen, oder?

BÉLA RÉTHY: Ja. Ich habe noch nie so oft auf die Uhr geschaut, wann denn dieser Tag zu Ende gehen würde. Aber ich kann ja nicht Zwanzigjährige, die gar nichts für die Umstände können (19 Absagen, u. a. wegen des DFB-Pokal-Finales), verbal in die Tonne treten! Das war schon schwierig. Manchmal ist man auch ganz froh, nicht am Mikrofon gewesen zu sein. Das EM-Halbfinale 2012 gegen Italien hast du kommentiert, oder?

STEFFEN SIMON: Hmm.

BÉLA RÉTHY: Italien führte 2 : 1. Es gibt Freistoß für Deutschland, der Schiedsrichter deutet an: letzte Aktion. Selbst der Neuer steht vorm italienischen Tor - und der Schweinsteiger spielt den Querpass zu Toni Kroos, statt den Ball nach vorne zu spielen. Schlusspfiff. Ich hätte womöglich einen Wutanfall bekommen und ins Mikrofon gebissen. Oder ins Mikrofon gebissen, um keinen Wutanfall zu bekommen. (lacht)

STEFFEN SIMON: Ich dagegen habe die Contenance bewahrt.

BÉLA RÉTHY: Ich hätte die Contenance wahrscheinlich auch bewahrt, aber da war die Gefahr schon sehr groß, dass einem ein "Ja, spinnt denn der!" rausrutscht.

TV SPIELFILM: Hat sich der DFB oder einer seiner Spieler schon mal zu Ihren Kommentaren geäußert?

STEFFEN SIMON & BÉLA RÉTHY: Nein.

TV SPIELFILM: Die Fifa wacht im Sinne der Sponsoren mit Argusaugen über die WM. Bisweilen soll sie dabei übers Ziel hinausschießen...

BÉLA RÉTHY: Ich erinnere mich an ein Turnier, bei dem es keine Milch im Presseraum gab, weil Coca-Cola die exklusiven Rechte für alkoholfreie Getränke besaß.

STEFFEN SIMON: Für die Dauer des Turniers gelten Fifa-Gesetze. Selbst na­tionales Steuerrecht wird außer Kraft gesetzt. Das war auch bei der WM 2006 in Deutschland so.

TV SPIELFILM: ARD und ZDF zahlen einen dreistelligen Millionen­betrag für die Übertragungsrechte. Sehen Sie für sich selbst die Gefahr, Fußball immer mehr als Produkt zu begreifen?

STEFFEN SIMON: Das ist er doch schon.

BÉLA RÉTHY: Der Journalismus spielt beim Hochglanzprodukt Fußball insgesamt eine untergeordnetere Rolle als früher.

Frank Steinberg

Brasilien - Kroatien
DO, 12.6., ZDF, 20:15 Uhr