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Fußball-WM in Brasilien

Futebol is coming home

Futebol is coming home
Wir sind das Volk: Beim Confed-Cup 2013 solidarisierte sich die Nationalmannschaft Brasiliens mit den Demonstranten. Und bei der WM? Imago

Die WM in Brasilien wird ein Turnier der Superlative mit 600 000 Gästen aus aller Welt. Tiki-Taka am Strand und in den Stadien? Vermutlich nicht nur

Foto: Imago, Wir sind das Volk: Beim Confed-Cup 2013 solidarisierte sich die Nationalmannschaft Brasiliens mit den Demonstranten. Und bei der WM?
Brasiliens Hymne ist verklungen, das Spiel kann beginnen, doch die Stars in Gelb rühren sich nicht vom Fleck. Arm in Arm, die Blicke nach oben gerichtet, singen Alves, Hulk, Neymar und die anderen das Loblied auf ihre "fürsorgliche Mutter Brasilien" noch einmal. Jetzt a cappella, mit 73.000 Stadionbesuchern, damit ihr Gesang auch draußen vor den Toren des Maracanã in Rio de Janeiro gut zu hören ist - und überall dort im Land, wo gerade Hunderttausende für bessere Schulen und bessere Krankenhäuser demonstrieren. Ihre Botschaft kommt an: Wenn sich das Volk erhebt, steht die brasilianische Mannschaft, die Seleção, an seiner Seite. Nur ihm gehört Brasiliens futebol.

Dieser bewegende Auftritt bildete den Höhepunkt des Confed-Cups vor einem Jahr und lieferte einen Vorgeschmack darauf, was uns bei der Fußball-Weltmeisterschaft erwarten könnte: Riesenparty und Revolte, vielleicht beides zusammen, wie es nur in diesem "Land der Gegensätze" möglich scheint. Die Copa do Brasil 2014, das ist die "Mutter aller Weltmeisterschaften" ("Welt"), der globale Ausnahmezustand. Könnte es, neben England, einen besseren Ort geben, um dieses größte Sportereignis der Welt auszutragen?

ZDF WM live
DO, 12.6., ZDF, 20:15 Uhr

(Brasilien - Kroatien: 22:00 Uhr)

Brasilien, nicht viel älter als der Fußball selbst, bewirbt sich um den Titel der besten WM aller Zeiten und hat gute Chancen, ihn auch zu gewinnen. Es wartet ein Turnier in XXL. Nie waren die Entfernungen zwischen den Spielorten größer (siehe WM-Planer, letzte Seite). Nie waren die Klimaunterschiede gewaltiger zwischen der feuchten Hitze im Norden und der trockenen Kühle im Süden. Und nie war der Mythos mächtiger. 600 000 ausländische Besucher reisen zur Weltmesse des Fußballs, darunter 15 000 Journalisten.

Sie mischen sich auf zwölf Fanfesten unter die drei Millionen brasilianischen WM-Gäste, die erwartet werden. Public Viewing ist Standard. Am Strand der Copacabana, wo im letzten Juli Millionen Gläubige Papst Franziskus huldigten, feiern die Massen nun ihre kickenden Nationalheiligen.

Es war der Fußball, der das Land einte

Futebol is coming home. Auf der Insel wurde der Fußball erfunden, als nobler Zeitvertreib der Oberschicht, doch in den Armenvierteln der brasilianischen Großstädte haben sie daraus vor langer Zeit eine eigene Kunst gemacht, inspiriert von afrikanischen Tänzen, vom Samba und den Kampfkünsten schwarzer Sklaven. Fußball ist doch nur ein Spiel? Nicht so in Brasilien. Es war der futebol, der die junge multikulturelle Republik einte, der dem Land Ruhm brachte und seine schlimm­s­ten nationalen Tragödien schrieb.

Wie 1950, als Brasilien im Endspiel der ersten Heim-WM sein "Waterloo in den Tropen" (Paulo Perdigão) erlebte: Vor 200 000 Zuschauern siegte Uruguay 2 : 1, im Stadion von Maracanã, einer der heiligen Stätten des Spiels, "brach das tosendste Schweigen in der Geschichte des Fußballs aus", schrieb Eduardo Galeano ("Der Ball ist rund"). Dieses Trau- ma zu bewältigen, ist die historische Mission der Männer um Neymar, die das Turnier am 12. Juni gegen Kroatien eröffnen.

Tickets gibt es nur für die Reichen

Doch herrscht im Land des fünffachen Weltmeisters nicht nur pure Vorfreude. Vertraut man Umfragen, steht inzwischen nur noch die Hälfte der Bevölkerung hinter der WM. Brasiliens Exkapitän Raí glaubt, dass "diese exzessive Wichtigkeit, die dem Fußball eingeräumt wurde", nicht mehr da ist. Sollte die Seleção scheitern, sagte der Weltmeister von 1994 der "Süddeutschen Zeitung", wäre das "keine Tragödie".

Dazu ging Brasiliens führender Fußballjournalist Juca Kfouri mit den WM-Organisatoren hart ins Gericht: "Brasilien begeht geradezu ein Verbrechen gegen sich selbst, indem es die WM auf diese Weise organisiert", sagte Kfouri der "taz" anlässlich der Veröffentlichung des Buches "Fußball in Brasilien. Widerstand und Utopie". Alles deute darauf hin, dass es neue Proteste "in größerem Ausmaß" geben wird, schreibt er.

Viele Brasilianer fühlen sich von ihrer Regierung hintergangen. Die hatte versprochen, die vom Weltverband FIFA verlangten Stadionbauten würden komplett privat bezahlt. Tatsächlich sind sie zu 80 Prozent aus öffentlichen Kassen finanziert. Außerdem sollten in den Spielorten Infrastrukturprojekte realisiert werden. Doch das Geld dafür ist größtenteils auf privaten Konten versickert.

Insgesamt 8,5 Milliarden Euro kostet die WM, fast dreimal so viel wie das deutsche Sommermärchen 2006, allein die Spielstätten verschlangen drei Milliarden. Dass vier neue Stadien, in Brasília, Cuiabá, Manaus und Natal, nach dem Turnier nicht mehr gebraucht werden, empfinden nicht wenige als obszön angesichts verrottender öffentlicher Einrichtungen. Tickets kaufen? Das können sich nur die Reichen leisten, die Armen gucken in die Röhre.

Die FIFA hat uns den Fußball geraubt, klagen deshalb die Fans. Vermutlich vier Milliarden Euro wird der allmächtige Verband einnehmen, steuerfrei. "Das WM-Turnier ist zu einem Sinnbild dafür geworden, was alles schiefläuft in Brasilien", sagt der in Barcelona lebende Sportjournalist Florian Haupt.

Er berichtete schon 2013 vom Confed-Cup, der Generalprobe für die WM, als sich der Zorn am Fußball entzündete. Anfangs gingen die Studenten auf die Straße, aus Protest gegen Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr. Ihr Schlachtruf: "Es wird keine WM geben!" Im Laufe des Turniers demonstrierten Millionen Menschen. Wutbürger, für die Fußball nicht alles ist. Gegen Korruption, Misswirtschaft, die schlechte Verwaltung.

Für Bildung und "Krankenhäuser auf FIFA-Niveau". Haupt befürchtet, dass die Sicherheitskräfte bei der WM noch massiver gegen die Demonstranten vorgehen werden, um sie von den Stadien fernzuhalten. Sollten sich an der Copacabana Protest und Fußball-Tourismus vermischen, "birgt das Sprengstoffpotenzial".

So wenig in Brasilien eitel Sonnenschein herrscht, so gründlich habe die Seleção das Klischee "pulverisiert", Brasilien sei immer noch das Mekka des Zauberfußballs, sagt Haupt. Das gelte schon seit der WM 1982 nicht mehr, als die letzte grandiose brasilianische Mannschaft um Falcão, Sókrates und Zico an Italien gescheitert war.

Für das schöne Spiel ist längst Weltmeister und Titelfavorit Spanien zuständig. Taktisch sind die Südeuropäer dem Gastgeber weit voraus. Brasilien bietet inzwischen mehr Zerstörer als Gestalter auf, die einen spielen nur defensiv, die anderen nur offensiv, und in der Spitze zeigt Neymar ein paar feine Tricks. Auch die Deutschen fühlen sich der Schönheit verpflichtet, dafür gewinnen sie nicht mehr, zumindest keine Pokale.

Bei der Heim-WM 2006 spielten sie den One-Touch-Fußball der Engländer, 2010 das Tiki-Taka der Spanier und verloren gegen eine Mannschaft, die das Copyright darauf hat. Spanien ist das Maß der Dinge, auch für die Seleção, die 2010 im Viertelfinale scheiterte. Carlos Dunga, der ungeliebte Trainer, wurde sofort entlassen. Der Verband hielt den Tag seines Heimflugs vorsorglich geheim. Nirgends ist die Leidenschaft für den Fußball größer und gefährlicher als in Brasilien.

Helmut Monkenbusch

ZDF WM live
DO, 12.6., ZDF, 20:15 Uhr

(Brasilien - Kroatien: 22:00 Uhr)