Die Abstimmung mit der Fernbedienung ist eindeutig: Als Zuschauer sind wir alle Europäer, ganz gleich, was bei den Wahlen zum Europaparlament am 26. Mai herauskommt. Noch nie wurden in der Alten Welt so viele Stoffe fürs Fernsehen verfilmt. In Ve­nedig waren gerade alle Augen auf Jude Law gerichtet, als er in ­Badehose am Lido entlanglief: Dreharbeiten für die Serie "The New Pope", die Fortsetzung von "The Young Pope". Eine inter­nationale Produktion, wie sie für die neuen Premiumserien charakteristisch ist, mit einem Engländer in der Hauptrolle, der Französin Ludi­vine Sagnier an seiner Seite, dem Amerikaner John Malkovich als Neuzugang und dem italienischen Oscar- Preisträger Paolo Sorrentino auf dem Regiestuhl. Auftraggeber sind Sky Italia und HBO (USA).

Eine solche Konstellation wäre noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Zwar floss auch früher schon amerikanisches Geld in TV-Produktionen auf dem Alten Kontinent. Das Weltkriegsdrama "Band of Brothers" (2001), hauptsächlich in England, aber teil­weise auch in der Schweiz gedreht, galt mit einem Budget von 120 Millionen Dollar sogar als die bis dato teuerste TV-Serie überhaupt. Aber für das Kreative waren US-Stars zuständig, Steven Spielberg sowie Tom Hanks, und die Oberaufsicht hatte HBO.

Heute ist der Fernsehmarkt weltweit in Bewegung. Neben den etablierten Streamingplattformen wie Netflix und Amazon Prime Video drängen die Konzerne Apple, ­Disney und Warner auf den TV-Markt. Hinzu kommen Telefonanbieter wie die deutsche Telekom und die spanische Telefó­nica, die ihren Kunden auf den Plattformen Magenta TV bzw. Movistar Filme und Serien anbieten. Die klassischen Fernsehsender halten dagegen und produzieren inzwischen Serien mit einem Aufwand und auf einem Niveau, wie es früher nur in den USA möglich war. Wer ­hätte beispielsweise gedacht, dass Frank Schätzings Bestseller "Der Schwarm", für den "Kill Bill"-Star Uma Thurman schon die Rechte gekauft hatte, nun vom ZDF verfilmt wird, das, wie man hört, bereit ist, mehr Geld auszugeben als die ARD für "Babylon Berlin"?

In Europa wird gedreht, als ­gäbe es kein Morgen. Die Bar­randov-Studios in Prag sind aus­gebucht. In Budapest werden ­allmählich Kameramänner und Filmcrews knapp. Die ersten Produzenten gehen bereits nach Serbien, Bulgarien und Rumänien. Spanien gilt unter Experten als Labor der TV-Zukunft. Hier kommt es zum direkten Duell zwischen altem und neuem Fernsehen, zwischen HBO España und Netflix. HBO España, seit 2016 in Spanien als Pay-TV im Angebot, hat gerade seine erste eigene Serie in Auftrag gegeben, die 2020 ausgestrahlt werden soll. "Patria", nach einem Roman von Fernando Aramburu, erzählt die Geschichte der baskischen Untergrundorganisation ETA anhand zweier Familien. Ein Jahr hat man am Drehbuch gefeilt. Die Serie muss aus HBO-Sicht ein Erfolg werden, um den Feind aufzuhalten. Der hat sein Lager zwanzig Autominuten nördlich von Ma­drid aufgeschlagen und bastelt bereits an einer Wunderwaffe.

In den Secuoya Studios hat Netflix sein erstes Produktionszentrum in Europa errichtet. Dort laufen die Dreharbeiten zu Staffel drei von "Haus des Geldes". Die beiden ersten machten den Krimithriller zur erfolgreichsten nicht englischsprachigen Serie des Dienstes. Netflix-Boss Reed Hastings nutzte die Eröffnung seiner Filiale bei Madrid, um vierzehn weitere spanische Serien und eine baldige Vergrößerung des Studios anzukündigen. König Felipe VI.lud daraufhin den Unternehmer in seinen Palast ein.

Ob die beiden auch über Geld gesprochen haben? Es geht beim Dreh in Europa ja nicht nur um die Kunst, sondern auch um die Schaffung von Arbeitsplätzen und Steuervergünstigungen für Produzenten. 13 000 Menschen hat Netflix 2018 in Spanien beschäftigt, dieses Jahr sollen es 25 000 werden. Ganz freiwillig passiert das nicht. Seit November 2018 gilt eine Regelung, dass in der EU dreißig Prozent der Inhalte von TV-Sendern, aber auch Streamingdiensten europäisch sein müssen. Das setzt die Plattformen unter Druck, entweder in Europa bereits produzierte Filme und ­Serien in Lizenz zu zeigen oder selbst eigene Formate in Europa zu produzieren. Dabei spielen die großen Player die Europäer auch gegeneinander aus. Showtime entschied sich bei der fünfen Staffel von "Homeland" erst dann für Berlin und gegen Zagreb als Drehort, als in Deutschland mehr Fördergeld floss.

Historische Stoffe lassen sich allgemein besser aus Europa entwickeln, findet der Medienunternehmer Herbert Kloiber, dessen Tele-München-Gruppe "Der Name der Rose" mitproduziert hat. Gänz ähnlich urteilt Moritz Polter, Executive Producer International Television bei der Bavaria Fiction: "Die Mystery-Thrillerserie ,Freud‘ drehen wir in Prag und Wien. Damit erzeugen wir im Zusammenspiel mit der österreichischen Sprache und Architektur in der Serie ein Lokalkolorit, das Sie in einem US-Studio gar nicht simulieren könnten." Das sieht man wohl auch bei Netflix so, die den Achtteiler gemeinsam mit dem ORF auf die Beine stellen. Auch so eine Kombination, an die man sich erst einmal gewöhnen muss, ähnlich wie bei der Zusammenarbeit von Sky und ARD bei "Babylon Berlin". Es scheint tatsächlich so zu sein, dass heute jeder mit ­jedem kooperieren kann: Pay-TV- Anbieter mit öffentlich-recht­lichen Sendern, Streamingplattformen mit klassischen Sendern, Pay-TV-Anbieter mit anderen Pay-TV-Anbietern (Sky und HBO wollen gemeinsam für 250 Millionen Dollar Serien produzieren), Plattformen mit Plattformen (Hulu und Magenta) usw.

Als Schreckgespenst des europäischen Fernsehens gilt bis heute der "Europudding". Das waren Produktionen, in denen nichts zusammenpasste, weil Sender und Produzenten sich gar nicht oder nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigten; die auf RTL 2012 ausgestrahlte, kanadisch-französisch-amerikanisch- deutsche Serie "Transporter" ist ein abschreckendes Beispiel.

"Die kreative Entscheidung wird heute bei Premiumserien meist bei einem Showrunner gebündelt", sagt Dorothee Stoewahse, Sprecherin von Beta Film, der Münchner Firma, die "Babylon Berlin" in mehr als neunzig Länder verkauft hat. Beta Film ist zusammen mit Red Bull Media House und der ARD-Tochter Degeto auch in das ambi­tionierteste europäische Serienprojekt involviert. "Das Netz" handelt von Machenschaften im internationalen Fußball, von illegalen Wetten und von Doping. Das Besondere ­daran: In jedem Land wird eine eigene Fassung gezeigt, aber einzelne Figuren tauchen in verschiedenen Zusammenhängen in meh­reren Ländern auf.

Bleibt bei allem Glanz im goldenen Serienzeitalter die Frage: Wer soll das alles gucken? "In Deutschland gibt es keine Serienblase", so Produzent Polter. "Die Produktionen sind solide finanziert, der Konsum steigt." Netflix hat für dieses Jahr fünf neue deutsche Serien angekündigt: viel düsteres Zeug für eine rosige Streaming-Zukunft.

Internationale Serien mit den meisten Länderbeteiligungen

Game of Thrones
Eine US-Produktion, aber eine, die in Nordirland, Kroatien, Malta, Island und Spanien gedreht wurde. Die meisten Darsteller kommen aus Großbritannien, darun­ter Emilia Clarke, einige aber auch aus Deutschland wie Tom Wlaschiha, Sibel Kekilli und Marc Rissmann.

Marco Polo
Statt in China, wo die Serie spielt, suchte man Schauplätze u. a. in Ungarn, der Slowakei und Malaysia. Der Titelheld wird von einem Italiener
gespielt.

Das Team
Serie mit Jürgen Vogel, produziert von Belgien, Dänemark, Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Das Boot
Drehorte waren Frankreich, Tschechien, Malta und Deutschland, produziert hat's die Bavaria.

Versailles
Gedreht wurde in Frankreich, aber auf Englisch und mit kanadischem Geld.

Killing Eve
Die US-Agenten­serie wurde u. a. in Frankreich, England, Italien, Österreich und Deutschland gedreht.

Rome
Die Drehorte der 9 Mio. Dollar pro Folge teuren US-britisch-italienischen Großproduktion lagen in Italien und Bulgarien.

Sense 8
Die Dreharbeiten der Netflix-­Serie fanden u. a. auf Malta, in den USA, in Frankreich, England, Spanien, Südkorea, Indien, Deutschland und Kenia statt.

Der Name der Rose
Ein Amerikaner und ein Deutscher in den Hauptrollen, Italien und Deutschland produzieren.

Die Libelle
Die BBC-Verfilmung von John le Carrés Roman entführt den ­Zuschauer von England nach Griechenland und weiter nach Deutschland und Israel. Kleiner Wermutstropfen: Statt bei uns wurde in Tschechien gedreht.