Alcatraz im Paradies

Er sehe die ganze Sache "ein bisschen spielerisch, mehr mit einem Augenzwinkern", sagt Oliver Bierhoff vor dem Zaun des deutschen WM-Quartiers Campo Bahia. Der Manager der Nationalmannschaft gibt ARD-Reporter Jürgen Bergener ein erstes Interview kurz nach der Ankunft im brasilianischen Luxusresort. Die Spieler hätten "direkt die Zusammenkunft in den Häusern gefunden", das sei "sehr positiv" gewesen, teilt Bierhoff freudig mit. Der Ex-Stürmer, eine richtige Neun, hat sich am Strand aufgestellt und lächelt unentwegt, denn keiner soll merken, dass er die ganze Sache in Wahrheit anders sieht, nämlich brutal ernst. Matratzen zu weich? Wasser im Pool zu warm? Läppisch. Hier geht es um die eine große Frage, von der vielleicht der Erfolg des gesamten, von ihm generalstabsmäßig geplanten WM-Projekts 2014 abhängt: Wer teilt mit wem die Unterkunft?

Das deutsche WM-Lager ist ein Mythos. Er erzählt seit 1954 davon, wie aus zwei Dutzend einkasernierten Männern, die sich untereinander nicht sonderlich leiden können, eine Mannschaft wird ("Geist von Spiez"). Und wie man am besten ausbüxt, ohne dabei erwischt zu werden, so wie einst Uli Hoeneß und Sepp Maier, die 1974 für eine Nacht aus Malente zu ihren Ehefrauen nach Hamburg flüchteten.

Nun ist es an Bierhoff, diesen Mythos zu managen. Sprich: Er muss den Teamgeist unter Palmen fördern und seinen begehrten Stars die Fluchtgedanken austreiben. Dafür hat er sich etwas ganz Modernes ausgedacht: Die Spieler dürfen selber bestimmen, mit wem sie unter einem Dach wohnen möchten. Beinahe jedenfalls. Tatsächlich "haben wir natürlich vier Kapitäne festgelegt, die das entscheiden", schränkt Bierhoff ein. "Wer sind denn die, wenn ich fragen darf", fragt Bergener. Er darf. "Lahm, Mertesacker, Schweinsteiger, Klose, unsere erfahrenen Kämpen", verrät Bierhoff.

Das Gespräch nimmt so richtig Fahrt auf. "Wie haben wir uns das vorzustellen?", will der Mann vom SWR jetzt aber genau wissen. Das sei "nicht so kompliziert", erläutert der oberste Logistiker des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Auf der Anlage gibt es vier Häuser für jeweils sechs Spieler. Jeder Kicker verfügt über ein eigenes Schlafzimmer samt Bad. Einzig das Wohnzimmer unten teilen sich die Hausbewohner, was Bierhoff zufolge den erzieherischen Effekt hat, "sich einigen zu müssen, wann Ruhe im Haus ist". In den nächsten Wochen werden die Hausgemeinschaften auch Wettbewerbe untereinander austragen, im Pool und an der Tischtennisplatte. Großartig, oder? Bierhoffs Blick geht an Kamera und Reporter vorbei in die Ferne.

Fehlt noch der Clou der DFB-Erziehungsanstalt: Nur in den gemeinsamen Wohnzimmern der Häuser steht ein Kühlschrank. Und den müssen die Spieler, man stelle sich vor, "selber bestücken", sagt Lagerleiter Bierhoff. "Wir sind kleine Selbstversorger im Quartier." Für den Fernsehzuschauer drängt sich allmählich die Frage auf, was für einen erwachsenen Fußballspieler wohl schwerer zu ertragen ist: Die 50er-Jahre-Sittenstrenge eines Übungsleiters wie Sepp Herberger oder die sanfte Rund-um-die Uhr-Bevormundung eines Teammanagers, der die Mannschaft mehr und mehr in ein Produkt verwandelt. Aber diese Frage stellt Bergener nicht.

Die Deutschen sind in Brasilien "überschwänglich empfangen" worden, heißt es über den Tag hinweg auf allen Kanälen. Dazu sehen wir touristische Bilder von Samba-Gruppen, von Caipoera-Tänzern und klatschenden Resort-Angestellten vor dem Quartier, die Deutschland-Fähnchen schwenken. Kein Kameramann traut sich, einmal über den nicht allzu hohen Zaun zu blicken. Allein Caren Miosga wird es am Abend in den "Tagesthemen" ein wenig zu bunt. Bei einer Schalte ins Camp (tagesthemen) fragt sie Lagerreporter Bergener, warum die Deutschen anders als die meisten Teams "in völliger Abgeschiedenheit fast wie auf einer einsamen Insel logieren". Und ob die Unterkunft so eine Art "paradiesisches Alcatraz" sei. Der Fußball-Sachverständige Bergener lächelt milde. Von einem Gefängnis könne nicht die Rede sein, erwidert er. Die Spieler lebten schließlich nicht hinter Eisengittern. Überdies "besteht nicht die geringste Fluchtgefahr".

Helmut Monkenbusch