Die Szene geht an die Nieren. Den Zuschauern wie auch Julia Koschitz, in deren Armen Florian David Fitz als ALS-Erkrankter im Kinofilm "Hin und weg" eine Sterbehilfe-Injektion erhält. Bei den Dreharbeiten ist alles längst im Kasten, da ringen die Beteiligten noch mit den Tränen. Für die Schauspielerin ist der Take im Nachhinein "ein Geschenk". Sie nennt es "die Gnade des Moments, wenn eine Situation so stark ist, dass die Grenze zwischen Spiel und Realität verschwimmt. Das ist nicht planbar".

Dabei hat die in Belgien geborene Österreicherin alles andere als nah am Wasser gebaut, auch in ihren Rollen. Tatsächlich hat sie zu Beginn ihrer Karriere nur in Komödien gespielt, und dort nicht das scheue Reh, das sie dank ihrer Erscheinung in Perfektion beherrscht, sondern oft ganz patente oder sogar zickige und zynische Charaktere. Wie ihre Ärztin in der RTL-Serie "Doctor's Diary", die sie - und auch Florian David Fitz - dem großen Publikum vorstellte.
Aber dann kam die Sehnsucht nach schwierigeren Stoffen, komplexeren Figuren, und es wurde "insgesamt relativ unlustig", resümiert sie heute schmunzelnd. "Uns trennt das Leben" war der Auftakt zu einer ganzen Reihe von TV-Dramen, denen ihre glaubwürdige Darstellung zerrissener, psychisch angeschlagener Frauenfiguren viel Kritikerlob und Fernsehpreise einbrachten - wie 2012 die an Depressionen leidende Mutter in Johannes Fabricks "Der letzte schöne Tag".

Drauf und dran zur neuen Schmerzensfrau des deutschen Fernsehfilms zu avancieren, wechselt sie fortan immer mal wieder das Genre und das Bildformat: vom Melodram ins Komödienfach, vom Fernsehen ins Kino und zurück. Sie umgeht die Genreschublade und beweist bei der Auswahl anspruchsvoller Rollen ein gutes Gespür. Gerade war sie zugleich mit einem köstlichen Boulevardstück ("Bocksprünge") und eben jener ans Herz gehenden Tragikomödie "Hin und weg" für den Deutschen Kritikerpreis nominiert.

Was kann da noch kommen? Worum geht es ihr? "Das frage ich mich mindestens einmal im Jahr", gesteht Julia Koschitz, die offensichtlich mehr will als nur spielen. "Wir würden wohl alle gern mit unserer Arbeit etwas verändern, einen Unterschied machen", sagt die 40-Jährige, "und wenn es nur darum geht, Denkanstöße zu vermitteln und Menschen neue Blickwinkel zu eröffnen." Die leidenschaftliche Theater- und Kinogängerin weiß, dass ein Film das leisten kann. Dazu bedarf es aber einiger Anstrengung. Die Schauspielerin jedenfalls legt bei der Vorbereitung auf ihre Arbeit Wert auf Genauigkeit, analysiert den Stoff und durchdringt ihre Figuren oft bis zum Gehtnichtmehr. "Ich zerpflücke die Bücher regelrecht, aber das alles dient nur dazu, dass ich in die Komplexität eines Charakters eintauchen und ihn mir dann übers Tagträumen intuitiv erschließen kann."
Wie sie dann mit traumwandlerischer Selbstvergessenheit die verschiedensten Charaktere zum Leben erweckt, ist regelmäßig ein kleines Ereignis, der Schauspielerin aber längst nicht immer genug: Sie will ihr Spielfeld erweitern und ist bereit dafür, einiges zu riskieren.

"Nur wenn man den Mut zum Scheitern hat, kann wirklich etwas Neues und Unerwartetes entstehen", sagt sie fast etwas selbstbeschwörend vor dem Hintergrund eines Filmprojekts, mit dem sie sich ein ganzes Jahr lang befasst. "Spinnennetz" lautet der Arbeitstitel des TV-Films, abermals von Regisseur Fabrick, über das Doppelleben einer DDR-Spionin, deren Tarnung mit der Mauer fällt. Ein leiser, kunstvoller Film, der ihrem Rollencharakter quasi auf Schritt und Tritt nachstellt. "Die ganze Erzählweise ist subtil so wie die dramaturgischen Wendepunkte - es braucht eine gewisse Aufmerksamkeit, um sie alle mitzubekommen", beschreibt Julia Koschitz die Herausforderung. Während der Dreharbeiten war sie oft im Zweifel, ob "das auch trägt", ob sie diesen Film trägt. "Wenn nicht, haben wir ein Problem." Ob's funktioniert hat, werden wir voraussichtlich im Herbst im Ersten überprüfen können. Davor gibt die Wahlmünchnerin erst einmal in zwei anderen ARD-Filmen sehenswerte Kostproben ihrer Kunst: in "Am Ende des Sommers", einem österreichischen Coming-of-Age-Drama um Schuld, Verdrängung und Vergebung, und in einem ziemlich verschrobenen Mystery-Thriller nach Coen-Brüder-Manier. Der Harz-Thriller "Harter Brocken" zeigt Julia Koschitz von einer Seite, von der man sie noch nie gesehen hat. Es lohnt sich. Versprochen.
Heiko Schulze

Harter Brocken
SA
7.3. Das Erste 20.15 Uhr
Am Ende des Sommers
MI
11.3. Das Erste 20.15 Uhr