Durch das offene Fenster hört man Vogelgezwitscher, die Sonne tupft goldene Flecken auf die Bücherregale. Kaum zu glauben, dass in dieser Berliner Altbauwohnung unter größter Geheimhaltung "Citizenfour" entstand. Eine herausragende Dokumentation, die 2015 den Oscar erhielt und die auf der Website metacritic.com beeindruckende 88 von 100 Punkten erhielt.

Die Vorgeschichte von "Citizenfour" ist fast so spannend wie sein Thema: die Enthüllungen von Edward Snowden über die globalen Überwachungspraktiken amerikanischer und britischer Geheimdienste.
Regisseurin Laura Poitras erhielt im Januar 2013 eine anonyme E-Mail. Der Unbekannte gab sich als auskunftswilliger Geheimdienstmitarbeiter aus und drängte auf verschlüsselte Kommunikation. Poitras gab ihm ihren Key. Die Dokumentarfilmerin war damals eine der wenigen Personen im journalistischen Bereich, die sich mit kryptologischen Verfahren auskannten.

Und sie hatte am eigenen Leib erfahren, wie rücksichtslos die US-Regierung gegen Kritiker vorging. Seit ihrem Film "My Country, my Country" (2006) über den Irak unter US-Besatzung galt sie offiziell als terrorverdächtig und hatte bei der Einreise in die USA unter Schikanen wie Beschlagnahmung von Computern zu leiden. Trotzdem war sie überrascht über das Ausmaß an Bespitzelung, das sich aus den Dokumenten ergab, die ihr der Unbekannte zuspielte.

Laura Poitras hatte ursprünglich geplant, einen Film über WikiLeaks-Sprecher Julian Assange zu drehen. Deshalb war die Amerikanerin im Herbst 2012 nach Berlin gezogen. Anders als in den USA, wo Filmemacher vom Staat zur Herausgabe aller Dokumente und Passwörter gezwungen werden können, ist in Deutschland der Schutz von Informanten und Quellen rechtlich besser abgesichert. Außerdem fand Poitras in der Hauptstadt mit der "Lola rennt"-Cutterin Mathilde Bonnefoy und dem Produzenten Dirk Wilutzky zwei furchtlose Mitstreiter.
"In Deutschland hatten wir keine Angst", erinnert sich Wilutzky, obwohl alle Beteiligten davon ausgingen, dass die US-Botschaft in Berlin die Wohnung überwachte. Poitras und Bonnefoy gingen deshalb für wichtige Gespräche in einen Park. Zu Hause gewöhnten sich Wilutzky und seine Lebensgefährtin Bonnefoy daran, über den Film nur verklausuliert zu reden. "Wir haben dadurch am eigenen Leib gespürt, was es heißt, in einer überwachten Welt zu leben, gegen die Edward Snowden kämpft", sagt der Produzent.

Der heute 50-Jährige hatte die schwierige Aufgabe, Geldgeber für einen Film zu finden, ohne sagen zu dürfen, um was es genau geht. Dabei half der gute Ruf von Poitras, die bereits 2007 für einen Oscar nominiert gewesen war. NDR und BR bewiesen Mut und ließen sich auf das schwierige Projekt ein.

Geheimtreffen in Hongkong

Mut zeigte auch Laura Poitras, als sie am 1. Juni 2013 nach Hongkong flog. Ihre anonyme Quelle hatte sich inzwischen als Edward Snowden geoutet und sich zu einem Treffen in der früheren Kronkolonie bereit erklärt. Weder die Regisseurin noch die beiden "Guardian"-Journalisten, die sie begleiteten, wussten, was sie im Zimmer 1014 des Mira Hotels in der Nathan Road 118 erwartet.

Statt eines Whistleblowers hätte sich dort auch ein geheimes CIA-Kommando verbergen können, um sie wegen Spionage festzunehmen. Als die Regisseurin Snowden gegenüberstand, war sie verblüfft. Sie hatte mit einem Agenten am Ende seiner Karriere gerechnet wie William Binney, der nach mehr als 30 Dienstjahren NSA-Geheimnisse ausplauderte und über den Poitras 2012 für die Website der "New York Times" das Video "The Program" gedreht hatte.

Nun wurde sie von einem 30-Jährigen begrüßt, den frühere Kollegen wegen seiner auffälligen Blässe mit Edward Cullen verglichen hatten, den melancholischen Vampir aus den "Twilight"-Filmen. Snowdens Helden aus der Popkultur waren jedoch andere. Erst trieb er sich mit seinem Avatar TheTrueHooHa auf dem Internetportal Ars Technica herum, wo er, damals noch in Diensten des CIA, über WikiLeaks motzte. Dann begeisterte er sich für das japanische "Tekken".

Das Martial-Arts-Game habe ihn gelehrt, so Snowden, dass es ein Einzelner mit einem scheinbar viel stärkeren Gegner aufnehmen könne, wenn er nur entschlossen sei. Und genau das war Snowden auch.

Seine Enthüllungen, vom "Guardian" aufbereitet, verbreiteten sich blitzartig über die sozialen Netzwerke in der ganzen Welt. Klar, dass unter diesen Umständen auch der Druck auf Laura Poitras wuchs, ihren Film möglichst rasch fertigzustellen. Doch die Regisseurin und ihr Produzent überstürzten nichts.

"Citizenfour" ist keine tagesaktuelle Reportage, sondern ein kunstvoll montierter Film. Während sich in Dokumentationen die handelnden Personen in der Regel an das erinnern, was passiert ist, oft ergänzt durch fragwürdiges Reenactment, zeigt uns Poitras das Entstehen einer Geschichte. Sie ist live dabei und lässt uns über die Bilder, die Kameraführung und den Schnitt die fiebrige Nervosität und Angespanntheit in dem engen Zimmer spüren, in dem das Interview mit Snowden stattfand.

In einer Zeit, in der digitale Tricktechnik längst Standard im Dokumentarfilm ist, knüpft Poitras bewusst an eine ältere Tradition an. Ihre Vorbilder sind Vertreter des Direct Cinema wie Frederick Wiseman, die ihre Kunst nutzen, um uns nah an die Wirklichkeit heranzuführen.

Weder Poitras noch Wilutzky ahnten, wie das Publikum auf "Citizenfour" reagieren würde. Anfang Oktober 2014 reisten sie nach New York. Im Gepäck: ein USB-Stick mit den verschlüsselten Daten von "Citizenfour". Beim New York Film Festival, wo die nach einem Pseudonym von Snowden benannte Doku am 10. Oktober Weltpremiere hatte, schlug der Film ein wie eine Bombe.

Die rund 2000 Zuschauer bedankten sich mit Standing Ovations. Nach dem Ende der Vorführung trat der Vater von Edward Snowden auf die Bühne. Er bekannte sich zu seinem Sohn und trotzte dem Druck vieler Amerikaner, die den Aussteiger als Verräter verurteilten. Snowdens Zukunft ungewiss "Citizenfour" erhielt alle wichtigen Preise und am 22. Februar 2015 schließlich den Oscar.

Die Auszeichnungen haben Wilutzky nicht verändert. Er engagiert sich weiter für Filme, die über den Zustand der Welt aufklären. Weil er glaubt, dass die Entscheidungen, die wir heute treffen, über das ökologische und politische Schicksal der Erde entscheiden. Und Snowden? Er wünscht sich in seiner Heimat, wo er wegen Spionage angeklagt ist, einen fairen Prozess. Doch im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2016 hält sich das Pro-Snowden-Engagement der US-Politiker in Grenzen.

Rainer Unruh

Citizenfour
MO 23.11. Das Erste 22.45