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SUPERSERIEN

Mehr als eine TV-Serie

Kleine Quote, große Wirkung: US-Serien wie "Breaking Bad" haben Fernsehen und Popkultur nachhaltig verändert. Ihr Credo: Das Chaos ist Teil dieser Welt, jeder hat seine Schattenseite. Dabei funktioniert das neue Qualitäts-TV nach strengen Regeln (FR, 6.12.)

Viele haben sie nicht gesehen, aber alle reden drüber. US-Serien wie Homeland oder Breaking Bad - letzte Staffel ab 9.12. auf Arte - sind das ganz heiße Ding im TV. Selbst Filmfans, die vor Jahren noch abschätzig auf das TV-Genre herabsahen, sind heute der Meinung, dass das Fernsehen ausgerechnet mit Serien das Kino nicht nur eingeholt, sondern bereits überholt habe.

"It's more than TV!", behauptet auch Dokufilmer Christoph Dreher, der in einer Arte-Doku am 6. Dezember dem Phänomen auf die Spur kommen will. Wir haben die wichtigsten Zutaten für die neuen Superserien hier aufgelistet:

Die neuen Formate werden fortlaufend erzählt, weswegen vielen Fans die DVD als das am besten geeignete Medium erscheint. Man schaut, wie man ein Buch liest, nach 50 bis 100 Stunden kommt es zum Finale.

It's more than TV!
FR 6.12. ARTE 23.15
Die Autoren sind die Chefs, allen voran der Creator, der mit einem Team zusammenarbeitet, in dem einer Dialoge schreibt, ein anderer für Charakterzeichnung und -entwicklung und ein Dritter für aktuelle Bezüge, gesellschaftlichen und politischen Hintergrund etc. zuständig ist. Der Creator hält das Ganze im Blick, taucht am Set auf, führt in entscheidenden Episoden auch mal Regie.

"Nimm einen Guten und mach ihn böse", scheint eine Handlungsanordnung für die neuen Serienmacher zu sein. Tatsächlich haben die Helden heute immer auch eine dunkle Seite. Sie sind zwiespältige, widersprüchliche Charaktere, die mit sich und der Umwelt kämpfen.

"Wenn es mir leichtfällt, eine Figur zu beschreiben, ist der Charakter schon tot", so Autor David Shore ("Dr. House"). Einige sind sogar richtige Schurken: Dealer, Rassisten, böse Jungs wie der Soziopath Dexter, der die Welt vor Verbrechern schützen will, indem er sie tötet.

Auch Frauen zeigen neuerdings (selbst-)zerstörerische Züge: Nurse Jackie nimmt Drogen, betrügt ihren Mann und pflegt als Krankenschwester eine individuelle Auslegung der Gesetzeslage. Vor Bryan Cranston in "Breaking Bad" machte bereits Mary Louise Parker in "Weed" Karriere als Dealerin. Zunächst aus einer Notlage heraus, begann sie schon bald das Gangsterleben zu lieben.
Die Autoren recherchieren die Realität aufs Genaueste, bevor sie eine mitunter bizarre Fiktion entwerfen. Zwei Jahre lang war David Simon als Polizeireporter unterwegs, bevor er mit dem Expolizisten Ed Burns The Wire entwickelte. Als Creators entwarfen sie ein pessimistisches Porträt der amerikanischen Gesellschaft - und eine der wichtigsten, stilprägendsten Serien der neuen Generation.

Im Szenenbild wirkt nichts arrangiert. Als Statisten agierten oft "echte" Leute von der Straße, die dazu aufgefordert werden, Straßenjargon zu sprechen und sich genauso zu verhalten, wie sie es sonst auch tun. Dass "The Wire" wie auch Treme - ebenfalls eine Simons-Serie, über Menschen, die nach dem Hurrikan Katrina zurück ins zerstörte New Orleans kommen - auf Filmmusik verzichtet, verstärkt den Reality-Touch. Sämtliche Musik kommt von Quellen, die Teil der Szene sind, sei es ein Autoradio oder der Auftritt einer lokalen Band.

Neben den Hauptfiguren gibt es oftmals eine Vielzahl von Charakteren, die ebenfalls unvorhersehbare Veränderungen im Laufe der Serie erleben. Für den Zuschauer bedeutet das, dass er höllisch aufpassen muss, denn nichts passiert zufällig. Dass jede Handlung mitunter komplexe Konsequenzen nach sich zieht, oft erst mehrere Folgen später, ist ein übergreifendes Charakteristikum. Hollywood-Regisseur David Lynch, der mit seiner 1990er-Miniserie Twin Peaks viele der neuen TV-Macher inspiriert hat, mag "die Spannung, dass jeden Moment alles schiefgehen kann. Dass man sich wirklich Sorgen macht."

Sex, Gewalt, Drogen sind keine Tabuthemen mehr, sondern Teil eines Teufelskreises, in dem die Figuren stecken. Im Gegensatz zur herkömmlichen episodischen Serie ist die Welt am Ende einer Folge nicht mehr
wie davor - und schon gar nicht wieder in Ordnung.

Die Kameraleute nutzen die Möglichkeiten neuer Digitaltechnik, um ihren Serien einen spektakulären Look zu verleihen, unter anderem mit horizontweiten Perspektiven, die vormals dem Kino vorbehalten waren.

Geht das nur im amerikanischen Kabelfernsehen, oder können wir das auch? Mit Dominik Grafs Miniserie Im Angesicht des Verbrechens und dem Echtzeitmehrteiler Zeit der Helden hatte Arte bereits zwei deutsche Super-Miniserien im Programm. Das Publikum tut sich mit der erzählerischen Konsequenz, die eine intensive Beschäftigung mit den Formaten verlangt, allerdings schwer. In Skandinavien ist man da weiter, wie der weltweite Erfolg der dänischen Serie Borgen eindrucksvoll belegt.

Heiko Schulze

It's more than TV!
FR 6.12. ARTE 23.15
Kulturell aufgewertet
Das Feuilleton entdeckt in den neuen
US-Serien eine (R-)Evolution der Ästhetik, US-Schriftsteller Jonathan Franzen ("Die Korrekturen") verglich sie mit großen Romanen des 19. Jahrhunderts. Der Kritiker und Blogger Alan Sepinwall betitelte seine Textsammlung zu Serien wie "Mad Men", "The Wire" etc. mit "Die Revolution war im Fernsehen". Und der geisteswissenschaftliche Diaphanes-Verlag veröffentlichte Serienanalysen von Intellektuellen wie Diedrich Diederichsen oder Dominik Graf.