1. Weniger ist mehr

Allein die Schlagzahl, mit der "Polizeiruf 110" durch ein Krimijahr geht, hebt sich deutlich von jener Frequenz ab, mit der der "Tatort" über heimische Screens flimmert. Letzterer ist allein 2016 satte 36 Mal auf Sendung gewesen, rund um Feiertage wie etwa Neujahr zuweilen mit nur zwei, drei Tagen Abstand zwischen zwei Ausgaben. Der "Polizeiruf" bringt es auf übersichtliche sechs Fälle im Jahr. Das schafft Luft für die Schreiberteams, entzerrt Produktionspläne, nimmt Druck vom Inspirationskessel der Autoren und macht nichtzuletzt jeden einzelnen Fall zu etwas Besonderem.

2. In der Ruhe liegt die Kraft

Es scheint, als haben sich die Polizeiruf-Autoren im Gegensatz zu den Tatort-Schreibern den Aspekt "aktueller Bezug" nicht so tief ins Stammbuch geritzt. Die Vielzahl an Tatorten scheint immer mehr nach Lage und Aufhänger zu schreien - von Flüchtlings-Thematik über Umweltschutz bis zu Korruption, Bankenkrise, Wohnungsbau - anything goes, Hauptsache, die Zuschauern kennen es aus der Tageszeitung. Nun könnte man sagen, der Pflegenotstand, den von Meuffels aktueller Fall "Nachtdienst" thematisiert, ist ebenso Schlagzeilen-Thema, dennoch scheint es, als bekäme man den Spagat zwischen Alltags-Authentizität und Crime-Entertainment besser, selbstverständlicher, kurzum spannender hin.

3. Druckabfall

Kein Format der Öffentlich-Rechtlichen steht so im Fokus wie der "Tatort". Egal, ob man guckt oder nicht, sich gut unterhalten fühlt oder genervt abschaltet - der ARD-Klassiker bewegt die Nation. Immer noch. Immer wieder. Immer aufs Neue, und das nach bald 50 Jahren. Es wird diskutiert und gekrittelt, beäugt und begutachtet, bemängelt und ja, auch beleidigt. Kein Wunder, dass die Autorenstifte da zuweilen verkrampfen. Beim "Polizeiruf 110", der, so scheint es, seine DDR-Historie beim Rübermachen relativ beiläufig abgestreift hat, geht es selbstverständlicher und entspannter zu Werke. Das kommt nicht zuletzt den Schauspielern zu Gute, die ihre Charaktermerkmale nicht wie einen bunten Hut auf dem Kopf tragen müssen, die sich mit Skripten auseinandersetzen müssen oder dürfen, die nicht so aufmerksamkeitsheischend "Hier" schreien, sondern dem Personal vor der Kamera mehr Freiraum und Spielfläche zu lassen scheinen.

4. Wo nochmal genau?

Die regionalen Bezüge kommen subversiver, gleichsam selbstverständlicher daher. Es muss halt nicht immer Dom und Kieler Förde, Oktoberfest und Wasn sein. Man kann hier auch durch MeckPomm flanieren, ohne über Wölfe zu stolpern, die Mauer in den Köpfen ist nur noch fußhoch und Rostock hat mehr zu bieten als Ostseeschmuggel und Rübermachen.

5. Rostock rockt

Sorry, Magdeburg (wo Brasch und Köhler immer noch ein wenig auf der Suche sind), mit Verlaub, München (wo Matthias Brandts von Meuffels längst seine ganz eigene Spielklasse bildet) und Tschuldigung, Frankfurt/Oder (wo Olga Lenski sich noch akklimatisieren muss), aber an Rostock führt kein Weg vorbei, geht nichts drüber: Die Fälle mit Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Alexander Bukow (Charly Hübner) kombinieren wie kein anderer Krimi auf dem Sonntagabend-Sendeplatz bestes Acting, tiefgründige Charaktere, eigenwillige Stories und damit unverrückbares Suchtpotential. Den nächsten Fall gibt es übrigens am 28. Mai, dann heißt es "Einer für alle. Alle für Rostock", ein Fall um die Ultraszene der Fußball-Fans.

Autor: Ingo Scheel