Kirsten Bruhn ist die Britta Steffen der paralympischen Schwimmszene. Nur erfolgreicher: 2004, 2008 und 2012 gewann die seit einem Unfall 1991 querschnittsgelähmte Athletin Gold bei den Paralympics. Jetzt kommt eine faszinierende Kinodoku mit der 44-Jährigen erstmals ins Fernsehen.

"Gold - Du kannst mehr als Du denkst" begleitet behinderte Sportler - neben Bruhn auch den australischen Rennrollstuhlfahrer Kurt Fearnley und den blinden Langstreckenläufer Henry Wanyoike aus Kenia - bei ihren Vorbereitungen auf die Wettkämpfe 2012 in London. Mit den Mitteln des klassischen Sportheldenfilms und zugleich viel Raum für drei außergewöhnliche, bewegende, mutmachende Lebensgeschichten.

TV SPIELFILM: Sie und ihre Co-Protagonisten äußern sich vor der Kamera auch über intime Details ihres Lebens mit Behinderung. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?
KIRSTEN BRUHN: Sehr, sehr schwer. Von den schlimmsten Emotionen und auch Schmerzen und Erinnerungen zu erzählen, die man so hat - das ist wirklich ein tiefes Buddeln in der Seele. Noch dazu in Gegenwart mehr oder weniger unbekannter Menschen, die eine Kamera auf einen halten.

TV SPIELFILM: Musste Regisseur Michael Hammon viel Überzeugungsarbeit leisten, bevor Sie für das Projekt zugesagt haben?
KIRSTEN BRUHN: Nein, das habe ich ziemlich schnell aus dem Bauch heraus entschieden. Manchmal war es dann aber einfach zu viel, da dachte ich: Das hältst du nicht bis zum Ende durch.

TV SPIELFILM: Es gibt eine Szene, in der Sie von Ihren Emotionen übermannt werden.
KIRSTEN BRUHN: Ich hatte noch sechs Wochen später Schwierigkeiten, emotional einigermaßen klarzukommen. Aber das war auch mit Abstand der schlimmste Dreh: Alles, was danach kam, war Gegenwart und nicht die Vergangenheit. Damit kann ich ganz anders umgehen.

TV SPIELFILM: Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit dem Regisseur empfunden?
KIRSTEN BRUHN: Da stimmte, wie man so schön sagt, die Chemie. Obwohl ich natürlich kein Experte bin, hatten wir, glaube ich, die gleiche Intention bei diesem Dokumentarfilm. Und das war wichtig. Ich musste nicht alles zwei- oder dreifach erzählen, "noch emotionaler" oder "anders betont": Nach zwei sogenannten Klappen war das meiste im Kasten.

TV SPIELFILM: Mit welchen Gefühlen haben Sie die Premiere auf der Berlinale 2013 erlebt?
KIRSTEN BRUHN: Ich war überwältigt. Das Team sollte den Film vor der offiziellen Premiere schon mal im kleinen Kreis anschauen. Ich war aber nicht dabei, weil ich so unbeleckt und neutral in die Premiere reingehen wollte wie alle anderen Zuschauer auch. Das hat sich rückblickend auch als genau richtig erwiesen: Kurt war völlig fertig, hat an dem Abend nur noch das Weite gesucht, wollte auch mit niemandem mehr reden und hatte einen wahnsinnige Panik vor der eigentlichen Premiere.

TV SPIELFILM: Wer den Film sieht, könnte denken, dass behinderte Topsportler ihre Ziele mit noch mehr Ehrgeiz verfolgen. Ist da was dran?
KIRSTEN BRUHN: Ich glaube, wir unterscheiden uns überhaupt nicht. Wir sind genauso engagiert, fokussiert, diszipliniert, masochistisch veranlagt und verrückt - ein Stück weit verrückt muss man nämlich sein, wenn man sich so quält.

TV SPIELFILM: Wie sieht denn Ihr Trainingspensum aus?
KIRSTEN BRUHN: Zwei bis vier Stunden Wasser am Tag und - je nachdem, wieviel es dann wirklich sind - zwei bis vier Stunden Athletik und Kraft. Damit komme ich auf fünf bis sechs Stunden täglich, fünf bis sechs Mal die Woche.

TV SPIELFILM: 2011 äußerten Sie in einem Interview den Wunsch, einen Tag lang eine Mannschaft der Fußball-Bundesliga so zu trainieren, wie Sie das schon seit Jahren machen...
KIRSTEN BRUHN: ...um zu sehen, wie es den Jungs danach so geht. (lacht)

TV SPIELFILM: Und? Wie war die Resonanz?
KIRSTEN BRUHN: Bislang hat sich da noch nichts ergeben. Aber das ist immer noch ein innigster, herzlichster Wunsch von mir. (lacht)

TV SPIELFILM: Sie schwimmen seit frühester Kindheit. Haben Sie als Teenager eigentlich ganz klassisch davon geträumt, mal bei Olympia auf dem Siegerpodest zu stehen?
KIRSTEN BRUHN: Nee, das lief bei mir ganz und gar unklassisch. Weder ohne noch mit Behinderung gab's den Plan, dass ich mal bei Olympischen Spielen oder Paralympics antrete. Das hat sich dann einfach aus der Situation heraus ergeben.

TV SPIELFILM: 2004, Ihre Paralympics-Debüt in Athen, der Gewinn der ersten Goldmedaille - wie war das für Sie?
KIRSTEN BRUHN: Ziemlich surreal. Ich habe das auch erst elf Monate später verarbeitet.

TV SPIELFILM: Wieso ausgerechnet elf Monate später - klingt, als hätte es ein Schlüsselerlebnis gegeben.
KIRSTEN BRUHN: Ja, gab es. Ich wurde damals bei einer Veranstaltung auf dem Podium viel nach den Paralympics in Athen gefragt - und konnte die Fragen nicht beantworten, obwohl ich ja live dabei gewesen bin. Da habe ich erst realisiert, wie viel an mir vorbeigegangen ist. Das habe ich dann zuhause nachgeholt, mit Fotos und Videos. Das musste im Gedächtnis regelrecht zusammengesetzt werden. (lacht)

TV SPIELFILM: Die Paralympics bekommen immer mehr Aufmerksamkeit - wo unterscheiden sie sich eigentlich noch von Olympia?
KIRSTEN BRUHN: Ich denke, bei uns gibt es noch ein bisschen mehr gegenseitige Wertschätzung. Einfach weil wir wissen: Es gibt Schlimmeres im Leben, als keine Medaille zu holen.

TV SPIELFILM: Henry sagt im Film sinngemäß, dass Behinderte weniger Mitgefühl, dafür aber mehr Möglichkeiten bekommen sollten - ist das eine Aussage, die Sie unterschreiben würden?
KIRSTEN BRUHN: Ja - und zwar gleich mehrmals. (lacht)

TV SPIELFILM: Der Umgang mit Behinderten ist oft von Hilflosigkeit geprägt. In welchen Situationen zucken Sie als Rollstuhlfahrerin innerlich zusammen?
KIRSTEN BRUHN: Das erste, was passiert, wenn man ins Restaurant rollt, ist, dass irgendwo hektisch ein Stuhl vom Tisch weggezogen wird. Nach dem Motto: So, jetzt fahren Sie mit dem Rolli an den Tisch ran. Ich will aber beim Essen nicht im Rolli sitzen, sondern auf einem ganz normalen Stuhl! Dann folgt prompt die Frage: "Geht das denn überhaupt?" Man wird regelmäßig behinderter gemacht, als man wirklich ist. Wieso können die Leute mit uns nicht so umgehen, wie sie mit jedem anderen auch umgehen?

TV SPIELFILM: Im Sommer beenden Sie Ihre sportliche Laufbahn. Wie schwer fällt dieser Abschied?
KIRSTEN BRUHN: Im Augenblick habe ich einfach so viel um die Ohren, dass ich mich über alles freue, was ich dann vielleicht weniger um die Ohren habe. Ich glaube deshalb nicht wirklich, dass es mir schwer fallen wird.

TV SPIELFILM: Und die viele trainingsfreie Zeit...
KIRSTEN BRUHN: ... fülle ich beruflich. Ich bin für die gesetzliche Unfallversicherung und das Unfallkrankenhaus Berlin tätig. Als Botschafterin möchte ich den Leuten das wichtige Thema Unfallversicherung näher bringen.

Frank Steinberg

Gold - Du kannst mehr
DO, 6.3., ARD, 20:15 Uhr

paralympics
ab FR, 7.3., ZDF, 16:45 Uhr