"Es stank immer ein bisschen, und es war schmuddelig", sagt Schauspielerin Mechthild Großmann, bekannt als verruchte Staatsanwältin aus dem Münster-"Tatort". Sie ist eine der Zeitzeugen in der nicht nur für Cineasten interessanten Arte-Doku "Cinema Perverso - Die wunderbare und kaputte Welt des Bahnhofskinos".

So sind die angeranzten Säle, die sich bis in die 90er-Jahre in jedem größeren Bahnhof fanden, bis heute in Erinnerung: als Biotop von Sex und Gewalt, in das sich nur der "Perverse im Regenmantel" verirrte, wie Underground-Regisseur Jörg Buttgereit die Klientel sehr suggestiv beschreibt.
Doch das Image der von Anonymität geprägten Kinos war nicht immer so übel. Ursprünglich erfüllten die "Bahnhofslichtspiele" das unschuldige Ziel, den Reisenden die Wartezeit zu verkürzen. Gegründet wurden die "Balis" in der Nachkriegszeit, als die Bahnhöfe aus den Trümmern wiederaufgebaut wurden und mehr sein sollten als Durchgangsstationen.

Da die Reisenden keine zwei Stunden Zeit für das große Epos hatten, bestand das Programm aus einer bunten Mischung von Kurzformaten, die in Endlosschleife durch den Projektor ratterten. "In 50 Minuten um die Welt" lautete das Motto. Ein Mix aus Nachrichten (Wochenschauen), sogenannten Kulturfilmen (populärwissen-schaftliche Dokus), Zeichentrick- und kurzen Slapstickfilmen. Ein ähnliches Kaleidoskop, wie es schon während des Kriegs in den Aktualitätenkinos präsentiert wurde.
Das Bahnhofskino als Fenster in die Welt zog in den von Wirtschaftswunder und Reisewellen geprägten 50er-Jahren ein breites Publikum an. Zeitweise machte die eigentliche Zielgruppe, Zugreisende mit Aufenthalt, nur 20 Prozent der Zuschauer aus. Ein großer Anteil entfiel auf Kinder, die für ihr kleines Taschengeld Stunden im Kino verbringen konnten, und Obdachlose, die für ein paar Pfennige vorübergehend einen warmen Platz fanden.

Trash gegen TV-Konkurrenz

Als sich in den 60er-Jahren in Deutschland das Fernsehen endgültig durchsetzte, hatten die Bahnhofskinos ein Problem: Wer das Neueste aus der weiten Welt sehen wollte, musste nicht mal das Haus verlassen. Die allgemeine, durchs Fernsehen ausgelöste Kinokrise wurde für die Balis dadurch verschärft, dass die Infrastruktur an den Bahnhöfen besser und die Wartezeiten kürzer wurden. Die Laufkundschaft nahm ab. In der Not zeigten die Häuser Spielfilme, meist simple Genreware, bei denen es nicht schlimm war, wenn man Anfang oder Schluss verpasste.

Um sich vom "normalen" Kino abzugrenzen, setzten die Macher dann vermehrt auf Stoffe, die es dort und in der guten Stube nicht zu sehen gab und die in der bürgerlichen Gesellschaft sowieso verpönt waren: Im gleichen Maße, wie sich im Bahnhofsmilieu Prostituierte und Junkies breitmachten, nistete sich ab den späten 60ern im Bahnhofskino der Reiz des Verbotenen ein: Sex, Gewalt, Provokation, eben die Mischung, die in den 70ern ihren Siegeszug durch die Provinz antrat. Das Bahnhofskino als Vorreiter größerer Liberalität.

Exotische Naturaufnahmen aus der Bali-Frühzeit verwandelten sich in Mondo-Filme, Pseudodokus über "grausame Riten" von Naturvölkern mit Tieropfern und abgehackten Gliedmaßen. Die Nudismusvariante mit barbusigen Schönheiten hieß dann "Sitten fremder Völker". Bestens in Erinnerung sind Sexfilmchen wie der "Bade- meister-Report" (1973), billige Kung-Fu-Streifen mit Bruce-Lee-Doubles, die dem Original nicht einmal entfernt ähnlich sahen, und heute zu Recht vergessene Kuriositäten des deutschen Genrefilms wie "Macho Man" (1985) mit Boxer René Weller oder "Die Todesgöttin des Liebescamps" (1981) von und mit dem Schlagersänger Christian Anders. Auch Kunstwerke hatten ihre Berechtigung - wenn sie Titel trugen wie "Die 120 Tage von Sodom" von Pier Paolo Pasolini.

Zu dem überwiegend harmlosen Trash gesellten sich bald auch moralisch grenzwertige Streifen, die Sex und Gewalt zynisch zusammenbrachten. Die Filme um die sadistische Frauen- knastwächterin Ilsa, die 1975 in einem KZ und in einem Harem die Peitsche schwang, wären heute vollkommen undenkbar. Von da an war es nur ein kleiner Schritt zur Hardcorepornografie, die sich dann Anfang der 80er-Jahre etablierte.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt erwuchs den Bahnhofskinos ein übermächtiger Konkurrent, der ihnen endgültig das Genick brechen sollte: Die Videokassetten brachten nun auch den Porno ins Wohnzimmer, und das letzte Alleinstellungs-merkmal der Balis war verschwunden.

In den 90er-Jahren zog dann die Deutsche Bahn die Notbremse. Als sie ihre Bahnhöfe immer mehr zu glitzernden Shoppingtempeln ausbaute, in denen nebenher Züge abfahren, war kein Platz mehr für die Schmuddelkinos. Das letzte klassische Bali schloss 1999 in Nürnberg. Eigentlich schade um ein Kultur- und Medienphänomen, das die geheimen Leidenschaften der Menschen so öffentlich und ungefiltert widerspiegelte.

Sebastian Milpetz

Cinema Perverso
SA, 31.10., Arte, 22:00 Uhr