Heult doch!

Jetzt, wo alle Dämme gebrochen sind, muss sich auf dem Fußballplatz niemand mehr seiner Tränen schämen. Lasst alle Hemmungen fallen, sinkt vor aller Welt auf die Knie, erfleht Beistand von oben und von den Rängen, bekreuzigt euch, weint bitterlich, ihr Helden der Nationen - und tut es den Brasilianern gleich! Deren Kicker siegten mit feuchten Augen im Elfmeterschießen 3:2 gegen Chile. Und obwohl sie nicht sonderlich gut Fußball spielen, können diese schluchzenden Männer vielleicht doch Weltmeister werden: Indem sie bei ihren Gegnern Mitleid erregen. Anders wird es schwer.

Wollen sie im Viertelfinale gegen die starken Kolumbianer (2:0 gegen Uruguay) bestehen, werden die Brasilianer noch eine Schüppe Emotionen drauflegen müssen. Die ersten Tränen könnten schon beim Einlaufen kullern, um den Gegner weich zu kochen. Bei der Nationalhymne müssten dann alle elf flennen. Wer den Anstoß ausführt, sollte im Mittelkreis ein Klagegebet ausstoßen. Wer einwirft, seiner Verstorbenen gedenken, die von da oben aus (doppelter Fingerzeig gen Himmel!) zuschauen. Vor Eckbällen könnte Neymar von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt werden. Die Welt wird es verstehen. Seht her, welche schwere Bürde es bedeutet, als Brasilianer im eigenen Land den WM-Titel holen zu müssen!

Unmenschlich, diese Last! Da hatten wir es 2006 leichter. Bei der WM in Deutschland erwartete niemand, dass Lahm, Poldi & Schweini Weltmeister werden. Die junge Elf sollte sich und uns nicht blamieren, was ihr ausgezeichnet gelang. Als sie ausschied, ging die Party weiter. In Brasilien ist das Aus des Gastgebers gleichbedeutend mit dem Aus der WM. Titel, oder nix! Nur wenige ziehen in Betracht, dass der Seleção womöglich die nötige Klasse für den WM-Sieg fehlt. Brasilien, so heißt es seit jeher, könne sich nur selber schlagen. Mal stellt der Trainer die falschen Leute auf, mal patzt der Torwart, mal verschießt der Stürmer.

Neymar traf. Nachdem er gegen Chile den entscheidenden Elfmeter verwandelt hatte, sackte er auf dem Platz zusammen. Vielleicht dachte Neymar in diesem Augenblick an den Torhüter Moacyr Barbosa, seinen Landsmann, der im WM-Endspiel 1950 im Maracana-Stadion einen vermeintlich Haltbaren zum 2:1 für Uruguay durchgelassen hatte. Und daran, dass man Barbosa diesen Patzer niemals verzieh. "In Brasilien ist die Höchststrafe für ein Verbrechen 30 Jahre. Doch ich zahle jetzt schon 43 Jahre für ein Verbrechen, dass ich nicht einmal begangen habe", sagte der verbitterte Keeper einmal. Er starb verarmt.

Am Samstag richtete Trainer Felipe Scolari seinen Ziehsohn Neymar auf, er drückte den zarten Jungen an sich, damit er sich an seiner Schulter ausweinte. Ein paar Schritte hinter ihnen heulte Brasiliens beinharter Innenverteidiger Thiago Silva wie ein Kind. Torwart Julio Cesar gab Fifa-TV ein Interview und erinnerte an die WM 2010 in Südafrika, wo er in den Augen der Brasilianer alles andere als überragend gehalten hatte: "Vor vier Jahren habe ich euch ein Interview gegeben und geweint. Heute stehe ich wieder hier. Ich weine heute Tränen vor Glück. Nur Gott und meine Familie wissen, was ich bis heute durchgemacht habe." Nach Mitleidpunkten liegt Brasilien bei der WM weit vorne. Schenkt ihnen meinetwegen den Pokal!

Tief in der Nacht, als Brasiliens Tränen längst getrocknet waren, testete die ARD noch einmal unser Einfühlungsvermögen. In der Sendung "WM Club" wurde ein Gast ("Das WM-Baby von 1978!") Zeuge seiner eigenen Geburt. Ein Filmbericht zeigte, wie er im Kreissaal von Engelskirchen am 1. Juni 1978 während des WM-Eröffnungsspiels Deutschland gegen Polen zur Welt kam. Eigentlich kein Grund, darüber die Fassung zu verlieren. Doch Moderatorin Julia Scharf mühte sich, ihren Gast emotional zu überwältigen. "Sie wussten, dass es dieser Bilder gibt, haben Sie aber vorher nie gesehen", sagte sie. "Können Sie überhaupt sprechen?" Der Gast begann zu weinen. "Nein, das ist schwer." Wer ihm von den Umständen seiner Geburt erzählt habe? "Meine Mutter." Jetzt rannen die Tränen übers Gesicht. Scharf: "Man merkt schon, in einer solchen Situation ist man nicht wirklich fähig zu sprechen." Er, stammelnd: "Das ist schwer."

Man möchte ja nicht mitleid- oder gefühllos erscheinen, aber es gibt Fernsehabende, da wünscht man sich nichts sehnlicher als falsche Tränen.

Helmut Monkenbusch