Der weichgeklopfte Titan

Großer Theaterabend im ZDF. Beim WM-Auftakt in São Paulo, als Brasiliens vor Angst wie erstarrte Nationalelf auf eine Tragödie zusteuerte, bis der Schiedsrichter das Spiel gegen Kroatien mit einem Elfmeterpfiff drehte und in eine Farce verwandelte, schlug die Stunde der Komödianten.

Auf ihrem Sonnendach hoch über der Copacabana führten Moderator Oliver Welke und Experte Oliver Kahn ein fünfstündiges Zwei-Personen-Stück auf. Darin ging es um den Druck im Allgemeinen. Und im Besonderen um die Wandlung eines Ex-Torwart-Titans, der früher immer und überall gewaltig unter Strom stand, der heute einfach Olli heißt und angeblich alles ein wenig lockerer sieht.

Kahns neue Lässigkeit dürfte das Ergebnis harten Trainings sein. Noch vor zwei Jahren, bei der EM in Polen und der Ukraine, war er als Experte sichtlich überfordert gewesen und wegen seiner schwachen Leistungen von der Presse heftig kritisiert worden. Er entfache kein Analyse-Feuer, und auch eine Charme-Offensive dürfe man nicht von ihm erwarten, schrieb damals die "Welt". Katrin Müller-Hohenstein, die Moderatorin an seiner Seite, sei um ihren Sparringspartner nicht zu beneiden. Kahn könne nur Kahn, hieß es in der Zeitung. Und er rede wie ein Politiker: Mit vielen Worten wenig bis nichts sagen.

Andere wären unter der Kritik vielleicht zerbrochen. Doch in Oliver Kahn weckte sie den Ehrgeiz, weiter diszipliniert an sich zu arbeiten, bis sich endlich diese Verkrampftheit vor der Kamera löste. Anders als früher schaut er seinen Gesprächspartnern inzwischen in die Augen. Und er liest seine treffenden Analysen nicht mehr vom Blatt ab, sondern formuliert so frei wie möglich. Mehr als zwei, drei Sätze zum Spiel kriegt er in der Regel sowieso nicht unter. Und er hat sich, drittens, eine bisweilen zwanghaft wirkende Selbstironie beigebracht.

Nach seiner Laufbahn als Spieler hatte er zunächst als Autor zweier Karriere-Ratgeber ("Ich. Erfolg kommt von innen" und "Du packst es") weitergeben wollen, wie man sich hohe Ziele setzt und diese auch erreicht: Indem man alles andere dem Erfolg unterordnet. Darüber macht er jetzt gerne Witze. Kahn hat den Titan weichgeklopft - und das ZDF. So musste, nach dem Debakel am Ostseestrand 2012, Müller-Hohenstein weichen. Sie berichtet heute aus dem deutschen Lager.

Wie ist denn die Stimmung so in Campo Bahia? "Wunderbar", "positiv", "prima", "bombig", vermeldete die Bedauernswerte am Donnerstagabend wahlweise, dann erschien Verteidiger Mats Hummels zum Interview, dem sie zum Schluss ein Paar Badelatschen als Geschenk überreichte. Welke lästerte: "Jetzt verschenken wir schon Schlappen." Hätte sie ihm stattdessen Kahns Buch "Ich" in die Hand drücken sollen?

An die motivierende Kraft der Lektüre scheint der neue Kahn selber nicht mehr zu glauben. Bei der WM 2006 habe Teamchef Jürgen Klinsmann die US-Karriere-Fibel "Denke nach und werde reich" unter den Spielern verteilt, erzählte der Ex-Keeper auf der Dachterrasse in Rio de Janeiro. Übrigens habe er damals beim Sommermärchen "wenig Druck verspürt", ist ja klar, weil er auf der Ersatzbank gesessen habe. Bei solchen Büchern "bin ich skeptisch", behauptete Olli doch tatsächlich und kassierte prompt einen bösen Kommentar von Oliver Welke. "Manche Torwarte sind dadurch immer reicher geworden."

Ob er denn etwas angespannt sei, schließlich schaue die gesamte Nationalmannschaft gerade die Sendung, fragte der Moderator. "Mich kann nichts mehr unter Druck setzen", sagte Kahn, der für einen kurzen Moment ganz der Alte war.

Ansonsten lag viel Druck auf dem Eröffnungstag der Weltmeisterschaft. Und das umtriebige ZDF fing ihn überall ein. Auf den Straßen von Sao Paulo, wo Polizisten mit Schlagstöcken und Tränengas gegen ein paar Dutzend Demonstranten vorgingen. Im brasilianischen Team, das im eigenen Land den Titel um jeden Preis holen muss. "Mit so viel Liebe muss man erst einmal klarkommen in dem Alter", sagte Welke über den Stürmer Neymar, der gegen die starken Kroaten gleich zwei Tore erzielte. Auch am Strand von Rio, wo nur Zehntausende zum Public Viewing erschienen, statt der erwarteten 300 000, ging es nicht so ungezwungen zu.

Womöglich lag es am Lärm der Polizeihubschrauber, die den Strand kontrollierten. "Ein Soundtrack wie bei ‚Platoon'", merkte Welke an, als nach dem Abpfiff "drei bis fünf Helikopter" über dem offenen ZDF-Studio kreisten. "Hast du was verbrochen?" scherzte Kahn. "Die landen gleich." Es war kurz nach Mitternacht, der Vorhang fiel. Im Duell um die Nummer eins unter den deutschen WM-Experten hat ein erstaunlich vergnügter Oliver Kahn vorgelegt. ARD-Experte Mehmet Scholl, von Haus aus eher das komische Talent, zieht am Samstag nach. Da Kahn nun den Komödianten gibt, sollte Scholl vielleicht ins ernste Fach wechseln.

Helmut Monkenbusch