TV SPIELFILM War es wie eine Heimkehr, wieder in den Motion Capture-Anzug des Gollum zu schlüpfen? Oder haben Sie in "Der Hobbit - Eine unerwartete Reise" ganz neue Seiten an dem blauäugigen Star ausgelotet? Sie selbst sind schließlich 10 Jahre älter als bei "Der Herr der Ringe", und Gollum ist 60 Jahre jünger...

ANDY SERKIS
Ja. Ich bin älter geworden, und der jugendliche Gollum hat die ganze Tortur von ‚Herr der Ringe' noch vor sich. Zu Beginn der grossen ‚Hobbit'-Szene mit Bilbo Baggins [Martin Freeman] weiß er noch nicht einmal, dass sein geliebter Ring für ihn verloren ist...

Gollum im Glück also?

ANDY SERKIS
Sozusagen. Und ich darf den bewegenden Moment spielen, in dem ihm der Verlust bewusst wird... Das wird Gollum in ‚Herr der Ringe' dann 60 Jahre lang quälen. Im Prequel schimmert noch sein Sméagol-Charakter durch: das Kindliche, die Freude am Treffen mit Bilbo, das ihn an seine Kindheit erinnert, die Begeisterung an den Rätseln, die sie einander aufgeben. Sein Gollum-Anteil ist da pragmatischer: Der will Bilbo schlicht töten und auffressen.

Gollums Mienenspiel, als er den Verlust des Rings bemerkt, ist eine der bewegendsten Szenen des Films. Erkennt Ihre Frau da die Mimik ihres Ehemanns wieder, die per Motion Capture schließlich Vorbild war?

ANDY SERKIS
Jede Veränderung in Gollums Gesichtsausdruck wird angetrieben von meiner eigenen Mimik. Gollums Gesichtsmuskulatur ist meiner eigenen exakt nachmodelliert. Nur seine Augen sind natürlich viel größer. Als ich das Gollum-Design zum ersten Mal sah, erinnerte er mich an meinen Vater, der letztes Jahr mit 90 starb. Ich war wirklich geschockt. Gollum zeigt mir also schon heute, wie ich vermutlich mit 90 aussehen werde, rein genetisch betrachtet. Auch meine Kinder würden in Gollum sicher den einen oder anderen Gesichtsausdruck von Papa wiedererkennen. Darin zeigt sich, wie weit sich Performance Capture technisch entwickelt hat, wie originalgetreu sie eine schauspielerische Leistung nachzuzeichnen vermag.
Beim ‚Herrn der Ringe' war das noch anders?

ANDY SERKIS
Ja. Damals hatten die Animateure Gollums Gesichtsdesign einerseits und meine Spielszene auf 35 Millimeter andererseits und mussten das Ganze Bild für Bild abgleichen. Gollum hatte damals deutlich weniger Ähnlichkeit mit mir. Heute setzen meine eigenen Gesichtsmuskeln Gollums Mienenspiel in Gang, ganz unmittelbar. Wir können die ganze Szene in einem Stück drehen, müssen nichts wiederholen. Martin [Freeman] und ich konnten unsere Begegnung ganz organisch spielen, unsere Figuren und ihre Beziehung zueinander ausloten.

Als führender Experte für Motion Capture gelten Sie spätestens seit ‚Planet der Affen' als der ‚Hauptdarsteller, der nie im Bild zu sehen ist'. De facto sind Sie aber sehr wohl im Bild — hautnah in jeder Geste und Miene, ob nun Affe Caesar oder Gollum.

ANDY SERKIS
Das ist eine interessante Debatte. Was Sie bei Performance Capture liefern, ist ja nicht nur die Physis — Stimme, Gesichtsausdruck —, sondern auch das Innenleben einer Figur, ihre Seele. Auch wenn Sie dabei nicht in Kostüm und Make-up über die Leinwand springen, gestalten Sie die Rolle doch vollkommen selbst. Sie sind ebenso Autor Ihrer Rolle wie beim live-Action-Auftritt. Einziger Unterschied: Bei der Performance Capture wird das Make-up sozusagen erst nach dem Dreh aufgelegt.
Sie haben für das neue Genre auch gleich ihr eigenes Produktionsstudio gegründet...

ANDY SERKIS
Ja, unser ‚Imaginarium' in den Londoner Ealing Studios ist ein Kreativlabor zur Entwicklung von Performance Capture, gleichzeitig arbeiten wir an eigenen Projekten, Filmen, Videospielen und Performance Capture für interaktives Theater. Diese Techniken verbessern sich ständig, es ist eine aufregende Zeit. Und wir unterscheiden uns von anderen Studios darin, dass wir die Instrumente für unsere Projekte gleich selbst entwickeln. Momentan etwa entwerfen wir ein ganz bestimmtes digitales Toolset für den Film ‚Animal Farm', bei dem ich Regie führe.

Performance Capture für Vierbeiner? Hört sich kompliziert an...

ANDY SERKIS
Ja, da müssen Sie für die verschiedenen Figuren gleich eine Vielzahl von Methoden entwickeln. Doch das Wichtigste ist, dass die Mimik jedes einzelnen Tieres vom Minenspiel eines Schauspielers angetrieben wird, und alle diese Schauspieler agieren zusammen am Set. Es ist eben nicht Animation, bei der ein Schauspieler allein in irgendeiner Voicebox die Stimme aufnimmt, während ein Team von Animateuren über die Bewegungen der Figur entscheidet.

Ist das das Ende der konventionellen Animation?

ANDY SERKIS
Nein, nicht unbedingt. Pixar-Filme benutzen ja auch keine Performance Capture, die machen Keyframe-Animation und das sehr bewusst. Es ist einfach eine andere Art des Geschichtenerzählens. Performance Capture hat dabei viel mehr von einem Live-Action-Dreh — mit der ganzen damit verbundenen Energie am Set.

Der ‚Hobbit' kommt jetzt auf DVD heraus — ist das eine Sache der Vergangenheit? Sie selbst arbeiten in Ihrem ‚Imaginarium' ja viel mit Videospielen, und soeben erschien erstmals ein Spielfilm exklusiv auf einer Gamekonsole...

ANDY SERKIS
Ja. Es gibt heute Games-Engines, die direkt online Content produzieren und unmittelbar streamen können... Es ist eine neue Welt. Meine Kinder sehen Filme inzwischen ständig auf ihren Tablets, und erleben dabei ebensoviel wie Menschen meiner Generation beim Kinobesuch. Und ‚Hobbit'-Regisseur Peter Jackson ist da ganz an der Spitze und sehr empfindsam dafür, wie Leute heute Filme rezipieren wollen. Deswegen drehte er den Film auch mit 48 Bildern pro Sekunde — er wollte dem Zuschauer einfach eine neue Erfahrung bieten, einen neuen Grund, ins Kino zu kommen. Für DVD-Zuschauer machen die 48 Bilder allerdings derzeit noch keinen Unterschied, da fehlen noch entsprechende Bildschirme.
Sie und Peter Jackson sind alte Buddies, und viele Schauspieler, die Sie von ,Herr der Ringe' kannten, waren auch beim ‚Hobbit' wieder dabei. War das wie ein Klassentreffen?

ANDY SERKIS
Ja, obwohl natürlich auch viele ‚Neue' mitspielten. Aber die Crew und das Art Department, die arbeiten seit Ewigkeiten an Petes Filmen mit. Wenn man sich kennt, versteht man einander einfach, auch ohne viele Worte. Und doch ist jeder neue Film eine neue Reise...

...vor allem für Sie. Sie haben am ‚Hobbit' ja nicht einfach nur als Gollum mitgwirkt, sondern waren auch Regisseur der zweiten Unit...

ANDY SERKIS
Es war mein Regiedebut bei einem solchen Riesenprojekt, ein ganz schön verantwortungsvoller Job. Wir waren für diverse Schlachtenszenen verantwortlich, dazu kamen die üblichen Second Unit-Aufgaben, wo du eine Szene zuende drehst, die die erste Unit nicht komplettiert hat. Manche Szenen mussten wir auch vollkommen neu schaffen, und dann war da die dramatische Arbeit mit den Schauspielern, die Luftaufnahmen...

Dem Film ist also deutlich auch der Einfluss von Andy Serkis anzusehen?

ANDY SERKIS
Ja, vieles sind meine Entscheidungen, die dann später natürlich noch verfeinert wurden. An einem typischen Drehtag baute ich die Kamera auf, richtete die Einstellungen ein, und Pete, der das Ganze auf seinem Monitor sah, gab mir sein Feedback, und so ging das hin und her. Manchmal gefiel ihm, was ich eingerichtet hatten, manchmal sagte er: Verschieb die Kamera doch nach hier oder dort... Es war ein großartiger Dialog. Ich habe eine Menge gelernt.

Interview: Michael Mutz