Neues in allen Genres - so vielversprechend lud RTL im Spätsommer zur Präsentation des Programms für die TV-Saison 2009/2010. Doch was Senderchefin Anke Schäferkordt der versammelten Presse servierte, war Magerkost - nicht auf dem Buffettisch, sondern auf der Videoleinwand. Zu Wein und edlem Schinken sah man dort statt spannender neuer Serien, origineller Shows und aufwendiger Movies vor allem eines: die schmutzige Wahrheit.

Reality-TV ist das Fernsehprogramm zur Wirtschaftskrise. Gerade mal eine neue Serie hat RTL für diese Saison produziert. Dafür gehen gleich sechs neue Dokusoaps an den Start. In "Endlich wieder Arbeit" hilft ein Bewerbungstrainer Erwerbslosen zurück ins Berufsleben, in "Das große Abnehmen" gibt Vera Int-Veen die Diät-Domina. Inka Bause darf in einer weiteren Sendung Paare verkuppeln und Christian Rach in noch mehr Küchen herumkommandieren. Außerdem werden Nachbarschaftsstreitigkeiten und das Leben auf dem Bauernhof vor die Kamera gezerrt.

Nicht nur RTL setzt mehr denn je auf Dokusoaps. Wer sich in der Woche abends durch die Privat-sender zappt, gewinnt immer häufiger den Eindruck, in eine Reality-Endlosschleife geraten zu sein. Bei Sat.1 kurven die unverwüstlichen "Toto & Harry" durchs Revier und macht Ramschkönig Alex Walzer seinem Titel Ehre. RTL II tauscht Frauen, bei Kabel 1 rollen Schwer-transporte, und bei Vox ist sowieso immer gerade irgendjemand am Kochen.

Sparen mit Zwegat

Und auch ARD und ZDF sind längst auf den Zug aufgesprungen. Wo vor nicht allzu langer Zeit noch hochwertige Naturdokus am Nachmittag ein Gegengewicht zu Krawalltalk und Gerichtsshows bildeten, darf der geneigte Zuschauer nunmehr täglich ganz nah dran sein, wenn im Allwetterzoo Münster Elefantenmist in die Schu-bkarre geschaufelt wird. In einer gewöhnlichen Programmwoche im November 2009 laufen im deutschen Free-TV nicht weniger als 222 Sendun-gen unter dem Label Dokusoap. Vor zwei Jahren waren es im selben Zeitraum gerade mal 88.

Der Grund für die Reality-Flut ist ebenso schlicht wie schnöde: Das Genre ist extrem billig. RTL-Chefin Anke Schäferkordt brachte es jüngst in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" ungewohnt deutlich auf den Punkt: "Fiktionale Unterhaltung ist in der Herstellung viel teurer als Real-Life-Formate." RTL hat sich angesichts rückläufiger Werbeeinnahmen einen rigorosen Sparkurs verordnet. Allein im ersten Halbjahr 2009 hat der Sender stolze 100 Millionen Euro gegenüber dem Vorjahr eingespart - nicht zuletzt dank Peter Zwegat, Inka Bause & Co. Ihre Sendungen kosten nur einen Bruchteil von dem, was eine selbst produzierte Serienfolge kostet. Die Schauspielergagen und Autorenhonorare entfallen, und anstelle eines vielköpfigen Filmstabs benötigt man vor Ort nicht mehr als ein kleines Kamerateam, einen Redakteur und die Protagonisten.

Letztere fallen als Kostenfaktor kaum ins Gewicht. "Toto & Harry" sehen von Sat.1 nicht einen Cent. Den Bauern in "Bauer sucht Frau" zahlt RTL für eine Woche Dreh eine Aufwandsentschädigung von gerade mal 3000 Euro. Die Frauen müssen sich mit 350 Euro am Tag begnügen. Bei einer fiktionalen Serie schlägt schon ein einziger Nebendarsteller oft mit dem Zehnfachen zu Buche.

Nun bedeutet billig keineswegs schlecht. Wie bei Filmen und Serien reicht die Qualitätsskala bei Doku-soaps von "ganz groß" bis "grottig". Wenn RTL, wie kürzlich geschehen, mit "Bauer sucht Frau" dreimal so viele Zuschauer gewinnt wie Pro Sieben mit dem zeitgleich laufenden teureren Thriller, dann hat das seinen Grund. Eine gut gemachte Dokusoap schaut man nun mal lieber als ein hingeschludertes Movie.

RTL toppt alles

RTL ist unangefochten die Nummer eins in der Sparte der seriellen Dokuware - zumindest, was den Zuschauererfolg betrifft. Die Top Five der quotenstärksten Dokusoaps laufen sämtlich bei dem Kölner Sender. Vor allem Produktionen wie "Bauer sucht Frau" und "Rach, der Restauranttester" ist es zu verdanken, dass RTL bei der jungen Zielgruppe derzeit seine besten Ergebnisse seit Jahren einfährt. Im Oktober 2009 lag der Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen bei satten 18,2 Prozent. Zum Vergleich: ARD und ZDF erreichten im selben Zeitraum jeweils etwas über 6 Prozent in dieser Zielgruppe.

Hauptgrund für den Erfolg: Der Sender hat das TV-Potenzial so kantiger Persönlichkeiten wie Schuldenberater Peter Zwegat und Res-tauranttester Christian Rach entdeckt. Ihre Glaubwürdigkeit bewahrt die Sendungen davor, in puren Sozialvoyeurismus abzugleiten. Oder sorgt zumindest für den Anschein. Welche Folgen ein personeller Fehlgriff haben kann, ist ab 24.11. bei Kabel 1 zu besichtigen. Mallorcas Jetset-Makler Sayn-Wittgenstein soll in "Der Immobilienfürst" verschuldeten Hausbesitzern helfen, ihre teils heruntergekommenen Buden gewinnbringend loszuschlagen. Eigentlich spannend, doch da man dem braun gebrannten Fürsten das Interesse am Schicksal seiner Klienten keine Sekunde lang abkauft, ist beim Zuschauer bloß Fremdschämen angesagt.

Realität nach Drehbuch

Personalprobleme gibt es inzwischen auch auf der anderen Seite. Der Nachschub der Zeigefreudigen, die bereit sind, vor der TV-Nation blankzuziehen, wird knapp und kann den Hunger der Sender nach ständig neuem Personal kaum noch stillen. Hinzu kommt, dass den Redaktionen allmählich die Ideen ausgehen. Die zehnte Koch-, Kuppel- oder Häuslebauerserie sorgt nur noch für Kollektivgähnen.

Der neueste Trend heißt darum: "Scripted Reality" - Wirklichkeit nach Drehbuch. Was klingt wie ein Widerspruch in sich, beschert RTL am Nachmittag Topquoten. Sendun-gen wie "Familien im Brennpunkt" oder "Verdachtsfälle" inszenieren ausgedachte Alltagsgeschichten. Gefilmt wird im billigen Dokustil in Wohnungen mit Wackelkamera und hochnotpeinlichen Freizeitmimen. Nicht schön, aber im televisionären Nachmittags-Grau-in-Grau für rund ein Viertel der Zuschauer das geringste Übel.

Manchen Zuschauern mag nicht klar sein, dass sie purer Fiktion aufsitzen, die meisten aber durchschauen den Kniff. Es ist paradox: Die billige Machart - ein für den Sender angenehmer Nebeneffekt - scheint diese Art Sendungen für den Zuschauer erst attraktiv zu machen. Was kann sich die sparsame Frau Schäferkordt mehr wünschen?

Christian Holst