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Doku-Tipp

"Gerd Ruge unterwegs" und im Interview

In "100 Kilometer um Moskau" gewährt die Reporterlegende Gerd Ruge Einblicke in die verwirrende Wertewelt des neuen Russland

Herr Ruge, Sie waren 15 Jahre als Reporter in Russland. Gibt es dort für Sie noch etwas zu entdecken?

Gerd Ruge: Ja, dieser Film zeigt Menschen, die man bei uns nicht sieht und die auch meine russischen Freunde in Moskau nicht kennen. Es sind Russen, die im Gürtel bis 50 Kilometer um die Hauptstadt wohnen. Ein Mittelstand, wie es ihn in Russland noch nie gab und der mit dem Leben einigermaßen zufrieden ist.
Hier kennt man eher steinreiche Milliardäre oder Bettelarme.

Gerd Ruge: Am Ende der Sowjetunion gab es in Moskau circa 300 000 Pkw, davon waren 50 000 privat. Heute gibt es dreieinhalb Millionen Autos, und die sind fast alle privat. Das ist ein völlig verändertes Lebensgefühl. Dieses Lebensgefühl will ich zeigen. Zurück zum Sozialismus wollen hier nur ein paar alte Frauen und Männer.

Man möchte meinen, Sie sind selbst ein halber Russe, dabei hatten Sie Ihre beste Zeit tatsächlich in den USA, richtig?

Gerd Ruge: Ja und nein. Für einen Auslandsreporter ist es nicht interessant, wo man ist, sondern wann man wo ist. Russland war in 70er- und 80er-Jahren hochinteressant, zwischenzeitlich auch China. Die USA waren für mich fabelhaft, in der Zeit zwischen 1960 und 1968, mit den Hippies und den Demonstrationen.

Sie haben in Künstlerkreisen verkehrt, waren mit der Folksängerin Joan Baez bekannt.

Gerd Ruge: Ich hatte Freunde aus der linken Szene in New York, und bei denen traf ich Joan Baez. Sie kam zu ihrem ersten Konzert in die Stadt, das im jüdischen Verein junger Männer stattfand. Sie hat mich gefragt, ob ich sie nicht hinbringen kann, so haben wir uns kennengelernt. Das war 1962. Ich kannte viele aus der Bürgerrechtsbewegung, die unter großem Risiko für die Rechte der Farbigen demonstrierten.

Ihre Berichte aus dieser Zeit haben TV-Geschichte geschrieben.

Gerd Ruge: Ich habe unlängst einen alten Film von 1963 gesehen. Der spielt zum großen Teil in einem Stadtviertel von Chicago, aus dem die Mutter des heutigen Präsidenten stammt. Das war der einzige Bezirk in einer Stadt in Amerika, in dem Schwarze und Weiße in denselben Straßen wohnten - unter enormen Schwierigkeiten.

Ihre Reportage vom Tod Robert Kennedys hat die Zuschauer damals sehr berührt, wie die von Martin Luther King. Was hat Sie selbst am tiefsten beeindruckt?

Gerd Ruge: Es war natürlich bedrückend, als Martin Luther King umkam und Robert Kennedy und eine Reihe anderer, nicht bekannter Leute. 1968 war in dieser Hinsicht wohl das bewegendste Jahr, aber auch das aufregendste, vielleicht aufregender als all die Jahre des Kennedy-Erfolgs.

Warum hat es Sie immer wieder nach Russland verschlagen?

Gerd Ruge: Ich war bereits als Hörfunkkorrespondent in den 50ern dort, wo ich Boris Pasternak (russ. Schriftsteller, "Dr. Schiwago") kennenlernte, ein prägendes Erlebnis für mich. Von ihm habe ich viel über Russland gelernt und darüber, wie man in einer kontrollierten Gesellschaft überlebt.

Dabei war es nicht einfach, Pasternak zu besuchen.

Gerd Ruge: Es war eigentlich verboten, ich hatte am Ende aber eine Genehmigung. Allerdings nur für einen Besuch, weswegen ich jedes Mal vorsichtiger wurde - das erste Stück zu Pasternaks Datscha mit dem Taxi, dann mit der U-Bahn, dem Vorortzug und dann zu Fuß. Pasternak schrieb mir Postkarten, wenn er mich einlud. Er sagte, Briefe sind gefährlich, Telefon wird abgehört, Postkarten nehmen sie nicht ernst. Eine gute Haltung, bewahrt einen vor allzu viel Angst.

Wurde es für Sie jemals gefährlich? Sie haben auch den Putschversuch gegen Gorbatschow in Moskau erlebt...

Gerd Ruge: Es gab Situationen, die hätten gefährlich werden können, aber es ist nie etwas passiert. Ich hatte immer Glück.

Welches Land wäre heute für Sie von besonderem Interesse?

Ich fahre heute lieber in Länder, in denen ich schon einmal war. Mich interessiert, wie auch bei diesem Film, wie sich die Menschen in den vergangenen 20, 30 oder 40 Jahren entwickelt haben. Was ist aus ihnen geworden, nach dem Verfall des kommunistischen Systems? Wenn man die Erinnerung an die damalige Zeit hat, kann man besser verstehen, warum die Menschen sind, wie sie sind.

"Wie geht es Ihnen?" Mit den einfachsten Fragen bringen Sie verdammt viel in Erfahrung.

Gerd Ruge: Es gibt sicher Situationen, in denen man anders fragen muss, aber oft kann man so ein ganz normales, freundlich-neugieriges Gespräch mit den Leuten beginnen. Und darauf reagieren sie eigentlich positiv. Etwa wie bei den Interviews, die wir jetzt im Stau bei Moskau geführt haben. Wir kamen nicht voran, da habe ich mir gedacht, fragen wir mal diejenigen, die hier im Schritttempo vorbeischleichen, nicht über Sozialismus oder Kapitalismus, sondern einfach über das Leben, wie es so ist.

Handy, Internet, Twitter - heute erfährt die Welt in Minuten, wenn irgendwo etwas passiert. Was bedeutet die technische Entwicklung für den Reporter?

Gerd Ruge: Zunächst einmal den enormen Stress, schnell Einschätzungen abzugeben, obwohl sich Ereignisse oft noch gar nicht zu Ende entwickelt haben. Als Adenauer 1955 in Moskau die Freilassung der letzten Kriegsgefangenen verhandelte, kam Außenminister von Brentano aus dem Palais und rief mir zu: "Wir brechen ab! Die Verhandlungen sind am Ende!" Heute wäre ich damit fünf Minuten später auf Sendung, damals dauerte das eine Stunde. In dieser Zeit merkte ich, dass Adenauer seinem Außenminister nicht folgen wollte. Also, die moderne Technik ist nicht ohne Tücken.

Heiko Schulze