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Arte zeigt "Heimat" und "Die andere Heimat" von Edgar Reitz

Überall ist Heimat

Zum Wieder- und Neuentdecken: Arte zeigt den Kinofilm "Die andere Heimat" und Teil 1 der TV-Chronik "Heimat" (DO, 27.8.) in neuer Fassung

Es war nicht weniger als ein Fernsehereignis, was die ARD am 16. September 1984 ausstrahlte. Eine Art Grenzstein mit der Aufschrift "Made in Germany", darüber in klobiger Blockschrift sechs Buchstaben: HEIMAT.

Im Hintergrund Wolken im Zeitraffer, dazu düster-hypnotische Klavier- und Holzbläsermusik, die einen heute ­entfernt an das Titelthema der Krimireihe "Inspector Barnaby" erinnert. Dann wird es schwarz-Weiß. Und das in Zeiten, in denen alles immer bunter, lauter, schneller sein sollte; 1984 gingen die ersten Privatsender Sat.1 (noch unter anderem Namen) und RTL plus auf Sendung.

"Heimat": Am 19. Mai 1919 kehrt Paul Simon aus dem Weltkrieg zurück, sechs Tage ist er aus Frankreich in den heimischen Hunsrück gelaufen. Die in elf Kapitel aufgeteilte Chronik beschreibt anhand von Fami­lienschicksalen der Simons und anderer im fiktiven Dorf Schabbach im Hunsrück die Geschichte der Deutschen, von den beiden Kriegen bis zum Wirtschaftswunder, in den Fortsetzungen "Die zweite Heimat" und "Heimat 3" weiter bis Mauerfall und deutscher Einheit.
Edgar Reitz war vielleicht der Erste, der in solcher Konsequenz horizontal erzählte, von seinen ersten Dokumentarstudien "Geschichten aus den Hunsrückdörfern" (1980) bis zur vierteiligen "Heimat"-Saga, die im Zeitraum von drei Jahrzehnten entstand und 150 Jahre umspannt. Die Dorfschmiede der Simons in Schabbach war der Mittelpunkt dieser Welt, und das änderte sich auch nicht in der zuletzt im Kino gezeigten Vorgeschichte "Die ­andere Heimat". Auch wenn die Schicksale Einzelner weit weg führen - nach Brasilien, Amerika, nach München und Berlin -, das Herz der Geschichte bleibt in Schabbach.

Bei Erstausstrahlung war "Heimat" über Wochen Gesprächsthema Nummer eins. So wurde der sporadische und überraschende Einsatz von Farbe in den vornehmlich schwarz-weiß gehaltenen Folgen viel diskutiert, analysiert und kritisiert. Reitz bekannte später, dass die Entscheidung oft recht willkürlich zwischen ihm und Kameramann Gernot Roll fiel. Ungewöhnlich auch das Bekenntnis zum Hunsrücker Dialekt, der aus Kartoffeln "Krummbeere" macht, aus ich "eisch" oder der das "Gehaischnis" kennt, was fast nicht zu übersetzen ist.
Für die Arte-Ausstrahlung hat Reitz höchstpersönlich noch einmal Hand angelegt, die elf Teile seiner Chronik laufen nun in digital restaurierter und neu geschnittener Fassung an sieben Abenden mit einer Gesamtlaufzeit von 888 Minuten, begründet mit einem gewissen Abstand über die Jahre und der Anpassung an neue Sehgewohnheiten.

"Heimat" war im Fernsehen anno 1984 gewissermaßen der Gegenentwurf zum heutigen Binge-Watching: Jede Woche versammelte man sich vor dem Bildschirm, um der Geschichte der Familie Simon zu folgen. Weiter ging es erst in der nächsten Woche. Es ist geradezu ­rührend, wie Edgar Reitz 2006 zur DVD-Veröffentlichung beschreibt, wie gern er den Zuschauern seine Filme (Reitz sah "Heimat" immer als Reihe von Einzelfilmen) in einer Sitzung gezeigt hätte, aber es gebe leider "kaum Aufführungsformen und Praktiken, wie man das Publikum so viele Stunden in den ­Sälen behalten kann". Mit Erscheinen der DVD-Komplett-box stand dem mehrwöchigen Binge-Watching nichts mehr im Wege.
Edgar Reitz, geboren 1932 im Hunsrückdorf Morbach, hat mit der "Heimat"-Saga internationale Anerkennung erfahren; die Filme liefen, vielfach prämiert, auf Filmfestivals weltweit. Das Renommee des deutschen Films im Ausland ist auch "Heimat" zu verdanken. Und im Grunde hat Reitz es wie seine Helden Paul, Hermann und Jakob gemacht: Er ist hinaus in die Welt gegangen, doch seine Heimat hat er immer mitgenommen, überallhin.

Volker Bleeck