Lily Collins stand nie im Verdacht, ein Schwergewicht zu sein. Doch die Bilder in ihrem neuen Film To the Bone (seit 14. Juli auf Netflix) sind schockierend. Nur von einem Krankenhauskittel bedeckt, sitzt sie vor einem von Keanu Reeves gespielten Arzt. Als die Kamera langsam auf ihren Rücken zufährt, ist zu sehen, wie sich ihr gesammtes Knochengerüst durch die Hautschicht drückt.

Neun Kilo hungerte sich die 28-Jährige unter ärztlicher Aufsicht runter, um den Look einer Magersüchtigen glaubhaft zu verkörpern.Vor einigen Jahren wäre das nicht nötig gewesen. Denn damals war Lily Collins wirklich magersüchtig, wie sie in ihrer kürzlich erschienenen Autobiografie "Unfiltered" gestand. Als einen der Hauptgründe nannte sie ihr gestörtes Verhältnis zu ihrem Vater, Sänger und Schlagzeuglegende Phil Collins. Als sie fünf Jahre alt war, trennte sich Collins von Lilys Mutter Jill Tavelman. Doch es war die Scheidung von seiner dritten Ehefrau Orianne Cevey, die Lily aus der Bahn warf. "Ich konnte mit den Schmerzen und der Verwirrung der Scheidung nicht umgehen", erklärt sie in ihrer Biografie. "Viele meiner großen Unsicherheiten entstanden aus diesen Problemen mit meinem Vater."

Ein Film als Selbsthilfe

Zu dieser Zeit jonglierte die Britin schon zwei Karrieren. Während sie es als Model bereits auf Titelseiten internationaler Modemagazine schaffte, läutete ihr Auftritt als Tochter von Sandra Bullock in "Blind Side" eine vielversprechende Schauspielkarriere ein. Doch die Dämonen blieben. Während sie in ihrer Rolle in "To the Bone" Hilfe bei einem Spezialisten sucht, überwand Lily Collins ihre Krankheit im echten Leben ohne Hilfe. Auch deshalb reizte sie der Film.

"Während ich unter der Essstörung litt, habe ich kaum etwas über die Krankheit gelernt", sagt sie im Telefoninterview. "Ich habe mich nicht in Behandlung begeben oder professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Ich habe alles mit mir selbst ausgemacht, und dieser Film war eine hervorragende Chance, mir fehlendes Wissen anzueignen."

Als Collins das Drehbuch auf ihren Tisch bekam, schien es ein Wink des Schicksals zu sein. "Ironischerweise hatte ich eine Woche zuvor das Anorexie-Kapitel meines Buchs geschrieben", erzählt sie. Und mit Autorin und Regisseurin Marti Noxon ("Buffy - Im Bann der Dämonen") hatte sie die perfekte Partnerin gefunden. Denn Noxons Drehbuch ist zu großen Teilen autobiografisch. Auch sie hatte als Teenager eine Essstörung, die sie beinahe das Leben gekostet hätte. So wurde das erste Treffen zwischen den beiden Frauen weniger zu einem Vorstellungsgespräch als zu einer Selbsthilfegruppe. "Ich wusste nicht, wie viel von ihr in dieser Geschichte steckt, bevor wir geredet haben. Wir haben uns auf einen Kaffee getroffen, und ich fand es sehr schwierig, in dieses Meeting zu gehen, ohne meine Verbindung zum Thema offenzulegen", erinnert sich Collins. "Ich habe auf ihr linkes Handgelenk geschaut, und sie hatte ein Tattoo mit den Initialen LJ darauf - die Namen ihrer Kinder. Ich habe auch ein LJ für Lily Jane auf mein Handgelenk tätowiert. Es war, als seien wir seelenverwandt."

Dem Bodyshaming den Kampf ansagen

Aus diesem Grund war der Film für den Star aus "Spieglein Spieglein" auch wie eine kostenlose Therapiestunde. Doch Collins möchte mit "To the Bone" auch eine Diskussion anstoßen. Seit Jahren kämpft sie als Botschafterin von Bystander Revolution gegen Mobbing unter Teenagern. Und Bodyshaming ist dabei eins der größten Probleme. Indem sie sich in dem Film als Magersüchtige geistig und körperlich entblößt und gleichzeitig öffentlich über ihren eigenen Kampf mit der Krankheit berichtet, hofft Lily Collins, eine Veränderung anstoßen zu können. Dass dies tatsächlich möglich ist, hat sie am eigenen Leib erlebt. "Nachdem ich ,To the Bone‘ abgedreht hatte, bin ich gleich nach Südkorea weitergeflogen, um "Okja" zu drehen. Ich habe versucht, meine Pfunde wieder zurückzubekommen, aber es ist ein langwieriger Prozess, und ich war immer noch sehr schmal, als ich auf Werbetour für meinen Kinofilm ,Regeln spielen keine Rolle‘ gegangen bin."

Wie für große Filme üblich umfasste das PR-Gewitter neben Pressekonferenzen und Interviews auch Fotoshootings. Doch die Reaktion, die Collins erhielt, war erstaunlich: "Viele Redakteure sagten, dass sie mich nicht abbilden wollen, weil ich zu dünn sei. Sie wussten, dass es für einen Film ist, aber sie wollten jungen Mädchen nicht dieses Kör- perbild vermitteln. Erst war ich frustriert und wütend darüber, aber heute applaudiere ich dieser Entscheidung." Solche Geschichten geben Lily Collins das Gefühl, mit "To the Bone" einen Diskurs über das Tabuthema Anorexie zu ermöglichen: "Je mehr wir darüber reden, desto mehr können wir bewirken."
Autor: Rüdiger Meyer