Sommer 1985. Wir hören The Jesus & Mary Chain und Einstürzende Neubauten, The Cult und Sisters of Mercy, schauen "Breakfast Club" und "Brazil", Studio Line im Haar, Walkman in den Ohren, die Schuhe spitz, der Mantel lang. Existentialismus light für Spätpubertierende. Doch so cool wir uns auch geben, so möchtegerngefeit gegen die profanen Dinge - als dieser rothaarige Typ auftaucht, strecken wir binnen Tagen die Waffen.

Ein 17-Jähriger aus Leimen dreht seine Runden auf dem sorgsam gestutzten Grün von Wimbledon und es dauert nur zwei, drei Siege, bis wir praktisch über Nacht in Beckermania einsteigen. Nach der Schule schmeißen wir uns vor den Fernseher und schauen Bobele dabei zu, wie er erst Joakim Nyström und dann Tim Mayotte schlägt, schließlich Leconte und Järryd. Hatte man Tennis zuvor geflissentlich ignoriert oder bestensfalls eingeschaltet, um McEnroe oder Connors die Schläger zertrümmern zu sehen, drehte sich plötzlich alles um die weißen und gelben Bälle, hatten die Übertragungen aus dem feinen Wimbledon, untermalt von der sonoren Stimme Gerd Szepanskis, unsere Sport- und Fernsehwelt auf den Kopf gestellt. Selbst mein alter Herr, ansonsten sport-ignorant bis ins Mark, drehte plötzlich durch. Als Boris Becker schließlich den Matchball gegen Kevin Curren verwandelt, springt er von der Couch in unserem Wohnzimmer in Kiel, reißt das Fenster zur Jägerallee weit auf und erhebt seine Stimme so laut, dass man es bis hinunter zur Holtenauer Schleuse hören kann:

"Boriiiiiis, du Tennisgott!"

Ein Ruf, dem wir von nun an nachhaltig folgen. Vom Dachboden holen wir alte Holzschläger und abgenuffelte Bälle, stehen plötzlich auf dem Tenniscourt der Uni und wandeln im Geiste auf Boris' Spuren. Unser telemediales Lagerfeuer werden die Live-Übertragungen von Tennis-Turnieren rund um den Globus. Im Jahr darauf sitzen wir nägelkauend vor der Röhre und sehen des Bobsters zweiten Wimbledonsieg, verfluchen die Regenpausen und überbrücken die Wartezeit bis zum Becker-Spiel mit Begegnungen zwischen irgendwelchen No Names. Zum Daviscup-Spiel gegen Schweden treffen wir uns zu fünft oder zu sechst bei einem Kumpel und verbringen das komplette Wochenende im Schlafsack vor dem Fernseher, Dosenbier, Prince Denmark, Slice, Longline und Volley, Game, Set and Match - der helle Wahn.

Wir stellen uns den Wecker auf 3 Uhr morgens, um nie endenwollende Begegnungen aus Hartford oder sonstwo zu erleben. Eines Nachts kommen wir aus dem Club in die heimische WG, um irgendeine Partie gegen Edberg oder Mecir oder Lendl zu schauen und jemand erbricht sich beim Scharfstellen des Bildes für die Livesendung aus down under über die Zimmerantenne. Momente für das ganz private Poesiealbum. Boris verändert sich und wir uns mit ihm, aber wir bleiben ihm irgendwie gewogen: In der Karpfenphase, als er ständig diese merkwürdigen Kieferbewegungen macht. In der weinerlichen Phase, als er dem verschlagenen Ball immer wieder ein "Rüber, rüber" hinterherheult. Und auch, als aus den Finalsschlachten mehr und mehr kümmerliche Erst- und Zweitrunden-Niederlagen werden und der nicht mehr ganz 17-Jährige aus Leimen sich aus der sportiven Primetime zurückzieht. Wir haben mit Bobele gesiegt, gestottert, gehadert und gefeiert.

Irgendwann verliert sich die Spur. Boris legt den Schläger aus der Hand, ich ebenfalls. Anna Ermakova kommt und geht, Babs und die Kids auch, Boris ist irgendwann drin (das ist ja einfach!), ich ebenso, auf einer Feier meines damaligen Arbeitgebers AOL gibt er mir die Hand und ich fühle immer noch die Magie, die von ihr ausgeht. Boris pokert und pimpert, trägt Fliegenklatschen am Kopf und das Scheckbuch gar zu lose. Die Hüfte ist künstlich, das Knie operiert, die Plautze nimmt Formen an - und dennoch - für uns ist er es immer noch und wird es immer bleiben, im Sommer 1985 genauso wie heute, da der Rotschopf aus Leimen seinen 50. Geburtstag feiert:

Ein Tennisgott.