Zu Lebzeiten stilisierte sich Walt Disney zum netten Onkel von nebenan. Sein Name steht für die Illusion einer heilen Welt, einer niemals endenden Kindheit. Doch nach seinem Tod wurde es zu einem beliebten Sport unter Kritikern, nach dunklen Flecken auf der demontrativ nach außen getragenen weißen Weste zu suchen. Wir präsentieren fünfzehn gängige Fakten, Meinungen und Gerüchte zu einer der schillerndsten, bedeutendsten Figuren des 20. Jahrhunderts.
Der Zocker
1922 vertickte der junge Trickfilmer Disney in Kansas City seine Kamera, um mit seinen letzten 40 Dollar in Hollywood noch mal durchzustarten. In seiner Karriere sollte Disney sich noch oft als Zocker erweisen. Als ihm der Produzent Charles Mintz 1928 die Rechte an seinem Cartoon-Karnickel Oswalt klaute, pfiff er auf das mickrige Honorar, das Mintz ihm bot, und erfand mit Kollege Ub Iwerks die Micky Maus. In den Dreißigern trieb er sein junges Studio mit der Produktion des ersten abendfüllenden Zeichentrickfilms "Schneewittchen und die sieben Zwerge" an den Rand der Pleite - heute gilt das Märchen als der fünfterfolgreichste Film der (inflationsbereinigten) Kinokassenhistorie. Als sein experimenteller Musikfilm "Fantasia" floppte und ihm im Zweiten Weltkrieg die Auslandsmärkte wegbrachen, sanierte er sein Studio durch die Produktion von Propaganda-Kurzfilmen für die Allierten. Als in den Fünfzigern das Geld für sein gigantisches Projekt Disneyland fehlte, holte er den Sender ABC als Finanzier und Miteigner ins Boot und nutzte die diversen Disney-Sendungen auf ABC dann als - vom Sender bezahlte! - Werbung für seinen Freizeitpark und sein Studio.
Der Kitschkönig
"Das wird Beethoven berühmt machen!" tönte Disney vor der Premiere des von klassischer Musik inspirierten Trickfilms "Fantasia". In der schwächsten Episode des ganzen Werks schäkern pastellfarbene Zentauren zu Beethovens "Pastorale". Bezeichnenderweise gilt "Fantasia" als Ende der - heute schwer vorstellbaren - Romanze zwischen Disney und Amerikas Intellektuellen. Seine Micky-Maus-Kurzfilme und die teils abgründigen Märchen "Schneewittchen" und "Pinocchio" waren von der Kritik gefeiert worden, Disney galt als innovativer Künstler vom Rang eines Charlie Chaplin. Nach "Fantasia" warf man ihm - nicht ganz zu Unrecht - vor, er habe sich an Beethoven, Strawinsky & Co. verhoben. Disney reagierte beleidigt, hängte seine Kunstambitionen an den Nagel und verließ sich fortan stärker aufs kommerziell Bewährte wie putzige Tiere und holde Prinzessinnen.
Der nette Onkel?
Walt Disney hielt sein Privatleben mit Frau und Töchtern weitgehend aus den Medien heraus. In den frühen Jahren trat er in der Öffentlichkeit als eleganter, etwas dandyhafter Jungunternehmer auf, der sich z. B. beim Polospiel mit Stars wie Spencer Tracy ablichten ließ. Im Studio gab sich Disney bis Mitte der Dreißiger als generöser Kumpelchef: Er zahlte besser als Konkurrenten wie die Fleischer-Brüder ("Popeye") oder Leon Schlesinger ("Looney Tunes") und beteiligte Animatoren üppig am Erfolg der Micky-Maus- und "Silly Symphonies"-Kurzfilme. Nach dem Erfolg von "Schneewittchen" und erst recht nach dem Studiostreik von 1941 kühlte sich sein Verhältnis zur Belegschaft aber deutlich ab. Sein öffentliches Bild als netter, altmodischer Schnurrbartonkel kultivierte Disney im US-Radio und -Fernsehen der Fünfziger und Sechziger, als er jede Woche in Sendungen wie "Walt Disney's Disneyland" den jovialen Conférencier gab.
Der Frauenfeind?
"Frauen sind nicht an der kreativen Arbeit an unseren Kinotrickfilmen beteiligt, für diese sind ausschließlich junge Männer zuständig." Diese Absage erhielt die Zeichnerin Mary Ford, die sich als Animatorin beworben hatte, 1938 von den Disney-Studios. Obwohl in Disneys Tuschabteilung vornehmlich Frauen arbeiteten, blieben sie von den wichtigen künstlerischen Entscheidungen ausgeschlossen. Ausnahmen wie die "Bambi"-Animatorin Reta Scott und die Concept-Art-Malerin Mary Blair bestätigen die Regel. Disney soll dabei vor allem befürchtet haben, dass Kräfte in den wichtigsten Abteilungen durch Schwangerschaften ausfielen. Bis heute gilt die Animationsbranche auch jenseits von Disney als Männerdomäne, in der es Frauen schwer haben.
Der Dirigent
Er war kein überragender Zeichner, kein großer Geschichtenerzähler und kein Regisseur. Dennoch hatte Walt Disney als Filmemacher enormen Erfolg, dank seines Geschäftssinns und einem Gespür für den Massengeschmack. Darin ähnelt er Apple-Gründer Steve Jobs, der kein großer Programmierer oder Designer war, aber dennoch als Technik-Genie galt. "Musiker spielen Instrumente, ich spiele das Orchester" lässt Drehbuchautor Aaron Sorkin in seinem Biopic Steve Jobs sagen.
Der Gewerkschaftsfeind
Während der Wirtschaftskrise kürzte auch der Maus-Konzern seinen Angestellten manche Boni, im Laufe der Jahre ging die Gehaltsschere innerhalb der Belegschaft immer weiter auseinander. Viele Mitarbeiter schlossen sich der Zeichner-Gewerkschaft an. Disney fühlte sich persönlich angegriffen, da er sich für den gütig-strengen Vater einer großen Familie hielt. Seinen Intimfeind, den hochbezahlten Zeichner Art Babbitt, setzte er massiv unter Druck, als der Disney-Kollegen für die Gewerkschaft werben wollte. Die waren für Disney sowieso von den Roten unterwandert. Als er Babbitt ein Ultimatum setzte, gingen die Mitarbeiter auf die Straße. Nach neun Wochen knickte Walt ein, das Tischtuch aber war zerrissen.
Der Leuteschinder?
Obwohl er sich nach außen jovial gab, war Disney in späteren Jahren bei seinen Mitarbeitern eher gefürchtet. Er trieb sie manisch zur Arbeit an, ein Lob war selten zu hören. Wenn er im Studio durch die Gänge ging, hustete er immer zur Warnung, dass er in der Nähe ist. Die Mitarbeiter flüsterten sich dann ein Zitat aus Bambi zu: "Mensch im Wald". Damit warnten sich die Tiere, wenn Gefahr im Verzug war. Außerdem gab es eine streng kontrollierte Hierarchie unter den Angestellten, manchen wurden nach Gutsherrenart Privilegien zugestanden, die andere nicht hatten. Andere Studiobosse gingen wahrscheinlich nicht besser mit ihren Angestellten um, stilisierten sich aber auch nicht zum netten Onkel.
Der Kommunistenfresser
Disney sah sich als Patriot, vor allem aber als Patriarch. Als Hollywoods Trickfilmzeichner in den späten Dreißigern anfingen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, verbat Disney sich jede Einmischung (siehe "Der Gewerkschaftsfeind"). Während der McCarthy-Ära kooperierte Disney 1947 bereitwillig mit dem "Aussschuss für unamerikanische Umtriebe, behauptete, eine "kommunistische Gruppe" habe seinerzeit im Studio das Kommando übernehmen wollen und schwärzte u. a. den Gewerkschaftschef Herbert K. Sorrell und den Zeichner David Hilberman an. Bei derselben Anhörung erklärte Disney, Kommunismus sei "eine un-amerikanische Sache" und seine Anhänger gehörten "ausgeräuchert und entlarvt".
Der Investor
"Wir machen keine Filme um Geld zu machen, sondern machen Geld um mehr Filme zu machen" lautet eines der berühmtesten Zitate von Walt Disney. Anders als Dagobert Duck, die Verkörperung des Kapitalismus im Disney-Kosmos, wollte er Geld nicht horten sondern investierte es, das Risiko, rote Zahlen zu schreiben ging er dabei ein. Davon können sich die heutigen Studio-Bosse, die mit Remakes, Reboots uns Sequels gerne auf Nummer sicher gehen, eine Scheibe abschneiden.
Der Antisemit?
Auch wenn schon Prominente wie Meryl Streep oder Seth MacFarlane ("Family Guy", "Ted") dem Trickfilmmogul Antisemitismus unterstellten: Judenfeindliche Äußerungen sind von Walt Disney nicht überliefert, und einige hochrangige Mitarbeiter waren Juden. Allerdings verkleidet sich der böse Wolf in der Urversion des Kurzfilms "Die drei kleinen Schweinchen" (1933) tatsächlich als jiddisch parlierender Hausierer, und im Kurzfilm "Opry Haus" (1927) schlüpft Micky Maus kurz ins Kostüm eines orthodoxen Juden. Ethnische Karikaturen tauchten, obwohl bereits damals umstritten, aber u. a. auch in Cartoons der Warner Bros auf. Wahr ist auch, dass Disney zeitweise Präsident der "Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideals" war, zu deren Mitgliedern auch lautstarke Antisemiten zählten. Vor allem galt die Gruppe aber als konservativer Lobbyzirkel.
Der Neurotiker
Die harte Arbeit vor allem in den Anfangsjahren ging am Workaholic Disney nicht spurlos vorbei. Er litt an Schlaflosigkeit und 1931 kam es zu einem Nervenzusammenbruch, wie er selbst es nannte. Marc Eliot beschreibt Disney in seiner berühmt-berüchtigten Skandal-Biografie "Hollywoods dunkler Prinz" als Neurotiker mit Waschzwang, der seine Mitarbeiter obsessiv überwachte.
Der Eskapist
Schon in seiner harten Kindheit mit strengem Vater flüchtete sich der kleine Walt ins Reich der Comics. Nach dem Streik in seiner Firma zog sich der große Onkel Walt beleidigt auf sein Anwesen zurück und widmete sich vor allem seinen zwei Töchtern. In seinem Garten ließ er eine kleine Eisenbahn bauen, mit der er Lokführer spielte. Warum nicht die heile Welt aus seinem Garten auch anderen zugänglich machen, dachte sich Disney irgendwann - die Idee des "Disneyland" war geboren. Alles Böse, Chaotische und Dreckige der modernen Welt sollte ausgeschlossen bleiben. "Sauber, natürlich, ansprechend", so lautet noch heute der Verhaltenskodex für die Parkarbeiter. Seit seiner Gründung 1955 ist es ein beliebter Sport von europäischen Kulturkritikern, den Themenpark als Monument der Weltflucht zu kritisieren, als die Illusion eines guten Amerikas (und damit der Welt) im Kleinen.
Der Städteplaner
Disneyland ist nicht genug. Der Visionär wollte sich eine eigene, "echte" Stadt bauen, mit viel Grünflächen und unterirdischen Verkehrsstraßen. Unter dem Namen "Experimental Prototype Community of Tomorrow" (EPCOT) sollte in Florida eine Modellstadt für 20.000 Einwohner
entstehen, als eine Art Freiluftlabor für künftige amerikanische Städteplanung. Freiluft allerdings nur im übertragenen Sinn, denn Disney wollte über EPCOT eine gewaltige Glasglocke stülpen, die alles hässliche, dreckige und kriminelle der modernen Welt Großstädte ausperrt. Baufläche stand schon bereit, nach Disney Tod wurde das Projekt aber eingestampft und nur als Attraktion in Disneyland verwirklicht.
entstehen, als eine Art Freiluftlabor für künftige amerikanische Städteplanung. Freiluft allerdings nur im übertragenen Sinn, denn Disney wollte über EPCOT eine gewaltige Glasglocke stülpen, die alles hässliche, dreckige und kriminelle der modernen Welt Großstädte ausperrt. Baufläche stand schon bereit, nach Disney Tod wurde das Projekt aber eingestampft und nur als Attraktion in Disneyland verwirklicht.
Der Rassist?
Nach seinem Tod wurde Disney immer wieder als Rassist bezeichnet, zuletzt im vergangenen Jahr von Meryl Streep und seiner eigenen Großnichte, der Dokumentarfilmerin Abigail Disney. In der Tat findet man heute in vielen älteren Filmen und rassistische Stereotypen, aber auch nicht signifikant mehr als in anderen Werken der Zeit. Besonders berüchtigt ist "Song of the South" über einen fröhlichen Ex-Sklaven, der immer noch vergnügt auf derselben Plantage arbeitet. Der Film von 1946 verschwand schnell im Giftschrank. Persönlich soll Disney laut engen Mitarbeitern aber kein Problem mit Minderheiten gehabt haben. Allerdings soll sich aus dem Kreis der meist jüdischen Bosse der konkurrierenden Studios ausgeschlossen gefühlt haben.
Der Tiefgekühlte?
Einige Jahre nach Disneys Tod 1966 kam die bis heute populäre Legende auf, der technikbegeisterte Studiochef habe seinen Leichnam einfrieren lassen. Die Mediziner der Zukunft sollten ihn auftauen und reanimieren, wenn sein Lungenkrebs heilbar wäre. Die Geschichte ist Quatsch: Nachdem Disney am 15. Dezember 1966 mit 65 dem Krebs erlegen war, ließ seine Familie ihn zwei Tage später einäschern. Er ruht nicht in einem Kältetank, sondern in einem Urnenschacht des Forest Lawn Memorial Park in Glendale, Kalifornien. Als Urheber des Gerüchts gilt Bob Nelson, Tiefkühlenthusiast und Gründer des California Cryogenics Society. Er behauptete 1972 in der Los Angeles Times, Disney hätte geplant, sich schockfrosten zu lassen. Weil er dies nicht schriftlich vermerkt hatte, hätte seine Familie dem Wunsch nicht entsprochen.
Autoren: Roland Kruse/Sebastian Milpetz