Ingo Lenßen (60) ist der Kult-Anwalt im deutschen Fernsehen. Der Mann mit dem markanten Schnauzer startete seine TV-Karriere mit Auftritten in der Sat.1-Serie "Richter Alexander Hold". Es folgten zahlreiche eigene Formate wie "Lenßen & Partner" und "Lenßen live – Die Rechtssprechstunde". Ab dem 2. August erscheinen wieder 100 neue Folgen der Scripted-Reality-Serie "Lenßen übernimmt" (Sat.1). Darin sorgt Ingo Lenßen auf den Straßen Berlins für mehr Gerechtigkeit. Im wahren Leben ist Ingo Lenßen selbst praktizierender Anwalt und konnte sein Fachwissen für die Entwicklung des Formates nutzen. Im BUNTE.de-Interview sprach der vielseitig interessierte und engagierte Anwalt unter anderem über die Serie, seine Berufung zur Juristerei und gibt spannende Details aus seinem Privatleben preis.
BUNTE.de: Was können die Zuschauer von den neuen Folgen "Lenßen übernimmt" erwarten?
Ingo Lenßen: Das, womit wir eigentlich schon im letzten Jahr begonnen haben. Es geht um Fälle, die sehr alltäglich sind. Es ist nicht mehr die Crime-Geschichte, sondern es geht um Fälle, bei denen wir den Menschen in ihren alltäglichen Problemen zur Seite stehen. Das kann zum einen ein abgelehnter Hartz-IV-Antrag sein. Das kann zum anderen eine Vaterschaft sein, die anerkannt werden soll oder ein Diebstahl, den ein Minderjähriger begangen hat und dessen Eltern sich jetzt darum kümmern, in welchen Kreisen der Junge sich bewegt. Es kann aber auch ein Fall sein, in dem ein Vater seinen Sohn negativ beeinflusst, der sich dann wegen seiner rassistischen Parolen auf dem Schulhof zu verantworten hat.
Sie haben erzählt, dass Sie an der Entwicklung des Formates auch beteiligt waren. Wie sehr waren Sie involviert und was war Ihnen dabei besonders wichtig?
Wir haben uns sehr frühzeitig zusammengesetzt und überlegt, auf welche Art und Weise wir den Zuschauer mit juristischen Inhalten unterhalten können. Das habe ich ein paar Jahre zuvor auch schon gemacht, allerdings anders. Somit haben wir uns überlegt, wie wir das in die aktuelle Zeit überführen können. Wir haben uns entschieden, mit einer anderen Kameraausrichtung arbeiten zu wollen. Zudem nutzen wir Drohnen für die Bildaufnahmen, was ich extrem spannend finde, weil es einfach einen ganz neuen Look bringt. Natürlich haben wir auch Themen gemeinsam erarbeitet, bei denen wir versuchen, die Brüchigkeit der Charaktere rüberzubringen. Diesen Anspruch darf man aber bitte nicht zu hoch hängen, denn wir haben tatsächlich nur 22 Minuten Zeit. Aber ich glaube, man kann trotzdem mit den 22 Minuten und den begrenzten Mitteln, die wir haben, den Menschen etwas differenzierter zeigen.
Ingo Lenßen spricht über einen Fall, der ihn besonders mitgenommen hat
Hatten Sie auch selbst Mitspracherecht, welche Fälle gezeigt (gedreht) werden?
Ja, aber bei 100 Fällen und Drehtagen von zehn Stunden und mehr komme ich natürlich nicht mehr dazu, bei der Entwicklung aller Fälle mitzusprechen. Das haben wir aber alles am Anfang der Staffel gemacht. Die Autoren fragen mich natürlich: "Welche Fälle haben dich besonders aufgeregt?" Oder: "Welche Fälle sind wirklich wichtig und relevant im Moment?"
Sie haben selbst jahrelange Erfahrung als Anwalt. Gibt es einen Fall in ihrer Karriere, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Ich arbeite ja immer noch als Anwalt und habe immer noch die Kanzlei. Und natürlich ist in den fünf oder sechs Monaten, in denen ich in Berlin bin, meine Teilnahme an den Fällen etwas geringer. Ich telefoniere aber täglich mehrfach mit meinem Büro und bespreche die Ausrichtung unseres Tuns. Ein Fall, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist der eines über ein Jahr inhaftierten, unschuldigen Familienvaters. Mein Mandant war ursprünglich verdächtigt, der Kopf einer internationalen Drogendealer-Bande zu sein. Wir haben mit allen Haftprüfungsbeschwerden versucht, ihn herauszubekommen. Niemand hat uns geglaubt. Am 20. Verhandlungstag war dann jedem klar, dass mein Mandant damit überhaupt nichts zu tun hatte. Zum Schluss wurde er natürlich freigesprochen. Aber das ist etwas, was mich natürlich sehr, sehr mitgenommen und begleitet hat. Diese Voreingenommenheit, nur weil ein paar Verdachtsmomente da waren, die wir aber mit Leichtigkeit ausräumen konnten, hat mich doch sehr erschreckt. Alles basierte auf der Geschichte eines Lügners, dem die Polizei einfach blind geglaubt hat.
Könnten Sie sich vorstellen, dem einen oder dem anderen den Rücken zu kehren? Also in der Zukunft "nur" noch als Anwalt zu arbeiten oder "nur" vor der Kamera zu stehen.
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin selbstständig geworden, weil ich frei bestimmen möchte, was ich tue und was ich nicht tue. Ich genieße es im Moment sehr und das soll auch so bleiben. Das eine ist genauso faszinierend wie das andere.
Ingo Lenßen über unser Rechtssystem
Während Ihres Referendariats zog es Sie nach Brasilien. Warum wollten Sie gerade in dieses Land?
Das ist eine ganz einfache Erklärung. Weil ich die Musik liebe und ich das brasilianische Portugiesisch sehr mag. Und ich wollte schon immer mal den Zuckerhut sehen. Ich war sechs Monate dort und es war toll, eine faszinierende Zeit.
Sie sind auch Familienvater. Möchte Ihr Sohn auch in Ihre Fußstapfen treten?
Nein, das möchte mein Sohn nicht. Mit der Juristerei hat er gar nichts zu tun. Er studiert gerade Business Management in Amerika und eigentlich möchte er Profigolfer werden.
In Ihrem Buch "Ungerechtigkeit im Namen des Volkes: Deutschlands bekanntester Strafjurist klagt an" setzten Sie sich ebenfalls mit fragwürdigen Gerichtsurteilen auseinander. Denken Sie, dass unser Rechtssystem im Strafrecht eine Reformation benötigt?
Überhaupt nicht. Ich halte unser Rechtssystem gerade im Strafrecht für sehr gut. Ich glaube aber, wir müssen lernen, genau hinzuschauen. Wir müssen versuchen, allen zuzuhören und uns nicht ein schnelles Bild machen, weil man keine Zeit hat und den Dingen ihren Lauf lässt. Ich habe auch ein Problem damit, wenn man glaubt, härter durchgreifen zu müssen, weil irgendeine politische Ausrichtung es gerade verlangt. Wir müssen uns als Justiz Unabhängigkeit bewahren. Wir sind verpflichtet, sehr genau zuzuhören, was die Menschen uns berichten. Damit meine ich die Menschen, die angeklagt sind, die Menschen, die als Zeugen da sind und auch die Menschen, die ermitteln. Wir müssen auch immer alles kritisch hinterfragen, um eine Relation hinzubringen. Der Strafrahmen, über den wir bei den einzelnen Straftaten verfügen, ist ausreichend. Es gibt sicherlich hier und da ein paar kleine Stellschrauben, an denen man drehen könnte, aber im Großen und Ganzen können sich andere Rechtssysteme echt etwas von dem abschauen, was wir hier machen.
Kult-Anwalt Ingo Lenßen wurde von einer Person inspiriert
Sie setzen sich für die Opferschutz-Organisation "Weißer Ring" ein. Wie können Opfer besser unterstützt werden?
Ich glaube die grundlegende Frage ist, wie wir Opfer sehen und wie sie sich selbst betrachten. Ein Opfer, das eine Ohrfeige bekommt, fühlt sich schlecht. Es fühlt sich minderwertig, auch bei der Verfolgung der eigenen Rechtsinteressen und da sollte man ansetzen. Opfer haben oftmals nicht das Selbstverständnis ihre eigenen Rechte einzufordern. Sie fühlen sich durch die Tat gedemütigt und kommen nicht mehr aus der Rolle raus, der Unterworfene zu sein. Wir müssen alle mithelfen, dass wir diesen Opfern mehr Selbstverständnis und Raum geben.
Gab es eine Person oder ein Ereignis, das Sie dazu inspirierte, Anwalt zu werden?
Es gab tatsächlich eine Person, und zwar war das ein Strafverteidiger aus Krefeld, mit dem mich ein sehr persönliches Erlebnis verbindet. Ich fuhr als 14-Jähriger mit dem Fahrrad einen Radweg entlang. Die Beifahrertüre öffnete sich und ich flog darüber. Der Anwalt kümmerte sich gleich um mich und besuchte mich und meine Eltern eine Woche später. Er kam, um sich zu entschuldigen und gab mir für meine Schmerzen und das Loch in meiner Hose, wenn ich mich recht entsinne, 250 Mark. Sein Verhalten hat mir sehr imponiert, weil es so selbstverständlich war.
Das zweite Erlebnis hatte ich als Zuschauer im Majdanek-Prozess in Düsseldorf. Das war einer der letzten großen NS-Prozesse, die in Deutschland stattgefunden haben. Da waren hauptsächlich Frauen angeklagt, die im Konzentrationslager von Majdanek ihr Unheil getrieben hatten. Diese Erlebnisse haben in mir den Wunsch stark werden lassen, mich mit Recht zu befassen, Anwalt zu werden.
Der Kult-Anwalt Ingo Lenßen über die Leidenschaft für seinen Beruf wird veröffentlicht von BUNTE.de.