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Jürgen von der Lippe wird 70: Der alte Mann und das Hemd

Jürgen von der Lippe
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Zum 70sten feiert Das Erste Jürgen von der Lippe mit einer dreistündigen Fernseh-­Gala. Wir erinnern an Meilensteine seiner Karriere - und seine Garderobe.

Zeig mir, was du anziehst', und ich sage dir, wer du bist. Bei Jürgen von der Lippe, geboren am 8. Juni 1948 unter dem bürgerlichen Namen Hans-Jürgen Hubert Dohrenkamp in Bad Salzuflen, könnte das Kleidungsmotto seines ­Lebens lauten: vom Bund auf zu bunt. Dabei hat der Mann, der das Hawaii­hemd zu seinem Markenzeichen gemacht hat, einst als braver Messdiener noch keusches Weiß getragen. Sein Vater war Barkeeper in der Aachener Cortis-Bar ("das beste Striptease-Lokal der Stadt"), die ­Mutter arbeitete als Diätköchin. Was Lästerschwester Ina Müller zur Schlussfolgerung verleitete: "Eigentlich müsstest du ein dünner Alkoholiker sein."

Nach dem Abitur verpflichtete er sich für drei Jahre beim Bund: "Ich wollte das Geld, aber es war schnell klar, dass ich als Offizier ­eine absolute Fehlbesetzung war." Von einem Wehrdienstverweigerer, der auf den Ausgang seines Verfahrens wartete, lernte er das Gitarrespielen. Er verließ die Bundeswehr im Rang eines Leutnants, studierte in ­Aachen und Berlin Germanistik, Philosophie und Linguistik auf Lehramt, aber ohne Abschluss.

Die Gründung der Gebrüder Blattschuss ("Kreuzberger Nächte") 1976 war mit Auftritten u. a. in der "ZDF-Hitparade" auch der Start seiner TV-Karriere. Diese und vieles mehr würdigt nun Das Erste mit einer abendfüllenden Gala mit Moderator Jörg Pilawa und Gästen wie Jürgen Vogel, Annette Frier, Carolin Kebekus und Horst Lichter. Nach den Feierlich­keiten zum 70sten geht von der Lippe im September mit seinem neuen Bühnenprogramm "Voll fett" auf Deutschlandtournee.
Die Anfänge
Foto: Imago
Im WWF-Club (1980-1984) spielte von der Lippe den gleichnamigen Hausmeister, einen ­anarchischen Störenfried mit vielen Talenten, der gern mal querschießt. Im Club gaben sich die Superstars die Klinke in die Hand. Tina Turner bestand darauf, die Lederhose von Regieassistentin Andrea zu tragen, und performte virtuos zum Vollplayback. Harry Belafonte und seine Band dagegen sangen und spielten live. "Da lag ein Zauber im Raum, das war unfassbar." Höhepunkt der Sendung: Wenn der Hausmeister die Showacts parodierte. Udo Lindenberg staunte nicht schlecht darüber, wie perfekt von der Lippe seinen hanseatischen Nuschelgesang draufhatte. Nur der gebürtige Rumäne Peter Maffay war schwer beleidigt, weil er das parodistische Wortspiel "Er ist Muräne, er kommt aus Muränien" als fremden­feindlich interpretierte.
Der große Erfolg
Die Livesendung Geld oder Liebe (90 Folgen) war legendär, nicht nur wegen der absurden Partyspiele, bei denen die Paare Po an Po Luftballons transportieren oder sich auf Matratzen liegend durch Berge von Betten und Kopfkissen wühlen mussten, sondern vor allem wegen der Überziehungszeiten: "Man musste immer mit ihm darum ringen, dass eine Sendung auch irgendwann mal zu Ende sein muss", erinnert sich Ex-WDR-Unterhaltungschef Axel Beyer. Deshalb fragte von der Lippe die Aufnahmeleiterin traditionell: "Hase, wie lange ham wa noch?" Die Bands, die er, einer umfangreichen Umbaupause geschuldet, ellenlang ankündigen konnte (für viele Fans das Highlight der Sendung), suchte er selbst aus, bei den meisten schossen die Verkäufe anschließend durch die Decke. Die Sendung wurde 1994 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.
Skurrilitäten
In der Livetalkshow So isses (1984-1989) traf von der Lippe auf skurrile Gäste. Das kollektive Staunen über Catcher, Bauchtänzer oder den Mann, der sich seine Zähne mit einer Bohrmaschine aus dem Baumarkt selbst behandelt, einte Publikum und Moderator.
Die Spielshow Donnerlippchen (1986-1988) entstand nach der englischen Vorlage "Game for a Laugh", versprühte "Frohsinn jener Art, die seit Jahrhunderten von Jahrmarkt, Zirkus und Fernsehen betrieben wird" ("Die Welt"), und erreichte in der Spitze jeden zweiten TV-Zuschauer (MA: 48 %)! Die Überraschungstalkshow Wat is? (1995-2000) lebte ­davon, dass weder Publikum noch Moderator wussten, welche Gäste sie erwarteten. "Ich wollte mal weg von der Vorbereitung und Gespräche mit Menschen führen, als würde ich sie abends in der Kneipe kennenlernen."
Literarisch
In der Sechs-Stunden-Sendung Ja uff erstmal...- Winnetou unter Comedy-Geiern (2001) lasen von der Lippe, Rüdiger Hoffmann, Dirk Bach, Bastian Pastewka, Hella von Sinnen und andere Comedians den Roman "Winnetou". Eine Lektüre, die von der Lippe seit seiner Kindheit liebt, denn in jedem Jahr bekam er zu Weihnachten ein Buch von Karl May geschenkt. Diese Radebeuler Ausgaben stehen noch heute in seinem Regal, daneben eine lateinische und eine chinesische Übersetzung und acht Erstausgaben, die ihm Rudi Carrell geschenkt hat. Rund 3000 Bücher finden sich in seinem ­Berliner Zuhause. "Ich lese überall. Im Auto, im Café, nachts mindestens eine Stunde vor dem Einschlafen." Selbst auf dem Klo darf die Literatur nicht fehlen. Was liest du? (2003-2010): "Ich wollte Comedy machen mit Literatur. Mit Büchern, die nicht ausschließlich komisch sind, aber auch komische Stellen enthalten, und die beim Vorlesen, vorzugsweise mit Partnern, eine komische Wirkung haben." Ina Müller brachte ihn völlig aus dem Konzept mit einem lebensecht vorgelesenen Orgasmus. Seit 2017 gibt es das Nachfolgeformat Lippes Leselust auf YouTube zu sehen. Von der Lippe will "aus dem Jugendheim YouTube ein Mehrgenerationenhaus machen. Denn das wunderbare Medium Buch muss überall, wo es geht, beworben werden."
Hypochondrie
"Wenn man mit Jürgen telefoniert und Jürgen hat nichts, dann ist er tot", juxt Axel Beyer. Sendungen mit Harald Schmidt, dem zweiten großen bekennenden Hypochonder des TV-Geschäfts, gerieten oft zur hochamüsanten medizinischen Beratungsstunde, weil die Herren sich mit ihren Erfahrungen bei Darmspiege­lungen, Prostatauntersuchungen etc. gern zu übertrumpfen suchten. "Fürs Zunehmen muss man schon etwas tun", verriet er dem spargelschlanken Harald Schmidt. Als der die Pointe nicht gleich kapierte, ergänzte er: "Wenn du immer nur das Nötigste isst und trinkst, hast du keine Chance." Wie immer setzt er dann noch einen drauf. "Alzheimer und Übergewicht sind keine schlechte Kombina­tion." Schmidt stutzt wieder. "Wieso?" - "Du steigst von der Waage und hast dein ­Gewicht vergessen."
Privates
Von 1986 bis 1988 war er mit Kollegin ­Margarethe Schreinemakers verheiratet. Die enthüllte 2015 in ihrer Biografie "Ich will das Leben küssen" den Grund für die schnelle Scheidung: "Als ich 1986 Jürgen Hals über Kopf geheiratet habe, stellten wir beide sehr schnell fest, dass wir uns zwar unheimlich toll fanden, aber im Grunde überhaupt nicht zusammenpassten. Ich wollte damals unbedingt Kinder. Jürgen sah das anders." Er witzelt über die gemeinsame Zeit: "Wir haben uns verliebt. Und fertig. Aber es war ein Irrtum, den wir beide auch schnell eingesehen haben. Wir waren auseinander, da waren die Hochzeitsfotos noch nicht entwickelt. Und ich rede von Polaroids." Seit der Trennung ist er wieder mit seiner Exfrau Anne Dohrenkamp ­zusammen, allerdings leben sie seit ­Jahrzehnten in getrennten Wohnungen.
Kirche
"Jürgen und die katholische Kirche, das ist ja noch mal ein ganz besonderes Thema. Wahrscheinlich wie alle, die mal extrem katholisch waren, hat man nur die Wahl, es zu bleiben und wird Papst, oder man wendet sich ab und wird extrem kritisch", sagt Axel Beyer, der als WDR-Unterhaltungschef viele Jahre von der Lippes Partner in Crime war. Wenn der seine Bühnenfigur Hochwürden traditionell ihren Vortrag mit "Meine lieben Schafe" beginnen lässt, blökt es dazu aus den Saallautsprechern, und nicht selten muss sich von der Lippe dann ein teuf­lisches kleines Grinsen verkneifen.
Kochsendungen
...sind seine heimliche Leidenschaft. "In den USA gibt es einen Sender, der nur Kochsendungen zeigt, den könnte ich den ganzen Tag schauen." Nachkochen will er nicht alles, könnte es aber. "Ulla Kock am Brink sagte mir: ‚Du kochst wie ein Gott.' Das lassen wir jetzt mal so stehen." Er sammelt Rezepte und hat 300 bis 400 Kochbücher im Berliner Penthouse in den Regalen stehen. Trotz seiner kochenden Leidenschaft würde er keine Kochsendung moderieren wollen, hatte aber bei "So isses" eine Kochecke im Studio.
Gürtellinie
"Er galt lange als die Grenze dessen, was im deutschen Fernsehen an Humor möglich ist, ­deshalb stammt auch von ihm der Satz: Die Gürtel­linie muss ständig neu definiert werden", sagt Harald Schmidt, und der Kollege Jochen Malmsheimer ergänzt: "Er ist da lustig, wo's sein muss, und wenn da jetzt gerade die Gürtellinie im Weg ist, muss die eben bespielt werden, aber auch die Resttrefferfläche ist da." Und so fragt man sich tatsächlich oft: War das eben ein Witz oder eine knallharte Zote? Doch anders als Krawallkomiker wie Mario Barth ­federt von der Lippe die derbsten Späße klug ab: "Es ist die Verbindung von Obszönität und Gelehrsamkeit", hat er dieses Prinzip einmal erklärt. "Nur ­obszön ist langweilig. Erst durch die Gelehrsamkeit wird das Ganze intellek­tuell reizvoll."