Die ganze Serienwelt drehte sich seit Beginn 2023 um "The Last of Us" – vollkommen zurecht, denn die Endzeitserie begeisterte Millionen und schaffte ein erzählerisches Niveau, wie es im Fernsehen nur ganz selten erreicht wird. Kaum ist diese Geschichte vorbei, wird uns hungrigen Serienfans aber schon gleich das nächste Meisterwerk nachgereicht. Zu finden ist es beim hierzulande noch jungen Streamingdienst Paramount+ und es hat eine Hollywood-Legende an Bord, die bisher die TV-Landschaft noch scheute: Sylvester Stallone.
Die Rede ist von "Tulsa King", einer Serie, die gleich aus zwei Gründen überraschend ist. Grund Nr. 1: Obwohl sie von der inhaltlichen Prämisse her nicht so klingt, ist sie ungemein frisch und neuartig. Grund Nr. 2: Sie zeigt ausgerechnet Stallone auf eine Art, wie man ihn noch nie wirklich gesehen hat.
Lang lebe der "Tulsa King": Das neue Original von Paramount+
25 Jahre lang hat Mafiaboss Dwight "The General" Manfredi (Stallone) im Gefängnis gesessen. Nach seiner Entlassung muss er feststellen, dass er in der New Yorker Unterwelt längst durch Jungspunde ersetzt wurde, die vor ihm und seinen Erfolgen keinerlei Respekt haben. Damit er ihnen nicht gefährlich werden kann, erhält er von Charles "Chickie" Invernizzi (Domenick Lombardozzi), dem Unterboss der Familie, einen undankbaren Auftrag: Er soll in der 400.000 Einwohner Gemeinde Tulsa irgendwo im US-Bundesstaat Oklahoma aufs Land ziehen und dort eine neue Vertriebstelle für die Mafia aufbauen.
Schon auf der Taxifahrt nach Tulsa spannt Manfredi den Fahrer Tyson (Jay Will) in seine Vorhaben mit ein. In Tulsa marschiert er schnurstracks zum lokalen "Dealer", um einen Anteil an Schutzgeld zu erpressen – und erfährt völlig verwundert, dass es sich bei Bodhi (Martin Starr) um den völlig legalen Betreiber eines Marihuana-Geschäfts handelt. Keine Frage: In Tulsa gibt es eigentlich nicht viel zu holen. Wie bringt man das Organisierte Verbrechen in eine verschlafene, unorganisierte Gemeinde? Frustriert lässt sich Manfredi am ersten Abend in einer Bar von der mysteriösen Stacy (Andrea Savage) verführen und landet mit ihr am Bett. Sie erfährt erst einen Tag später, mit wem sie da geschlafen hat und entwickelt nun berufliches Interesse an Manfredi: Sie arbeitet bei einer Polizeibehörde, die explizit gegen Alkohol- und Waffenschmuggel ermittelt.
"Tulsa King" und Sylvester Stallone überraschen mehrfach
Ein älterer Mann versucht auf dem Lande, ein Gangsterimperium aufzubauen, scheitert aber zu Beginn noch an den banalsten Dingen der Welt und hat zudem einen direkten Gegenspieler von der Polizei in den engsten Reihen – bei vielen Zuschauern dürften nach dieser Inhaltsangabe die "Breaking Bad"-Glocken klingeln. Und genau hier überrascht "Tulsa King" schon nach nur einer der insgesamt neun Episoden: Es handelt sich nicht um einen harten Gangsterthriller oder ein emotionales Figurendrama. "Tulsa King" ist vor allem sehr lustig. Die Trailer haben das nicht wirklich erahnen lassen, und "Tulsa King" mag nicht direkt als Komödie zu verstehen sein, doch die Leichtigkeit, mit der die Chef-Autoren Taylor Sheridan (bekannt für düstere Filme wie "Sicario" und noch düsterere Serien wie "Yellowstone") und Terence Winter (bekannt für die Serien-Mafiaepen "Die Sopranos" und "Boardwalk Empire") ihre Geschichte erzählen, erstaunt.
Insbesondere, da Sylvester Stallone sich nur selten je als Komiker versucht hat – abseits vom legendär vergurkten Spielfilm "Stop! Oder meine Mami schießt!". Tatsächlich steht ihm diese Rollenauslegung aber hervorragend. Seine stoischen, tumben Gesichtsausdrücke (meist als Reaktionen auf das seltsame Verhalten der "Provinzler" aus Tulsa) sind brüllend komisch und ursympathisch. Noch überraschender: Ausgerechnet Sylvester Stallone, der seit mehr als 30 Jahren mit allen Mitteln versucht, optisch und in den Augen der Zuschauer möglichst wenig zu altern, spielt hier offensiv mit seinem Status Ü70. Manfredi mag ein Gangster sein, ein harter und schroffer Kerl, doch er ist auch ein "Boomer", ein alter Mann, der sich abgehängt fühlt und auch durch seine Zeit im Gefängnis den Anschluss an die junge Generation verloren hat. Zu Beginn der Serie schaut er ungläubig Teenagern zu, die mit Smartphone und VR-Brillen über die Straße laufen. Man kann nicht anders, als in diesen Szenen zu denken: "Rambo ist alt geworden." Aber deshalb nicht weniger cool.
Lesetipp
Es war nur logisch: Auf "Rocky" folgt irgendwann "Tulsa King"
Keine Frage: Die Serie lebt von Sylvester Stallone, der hier vielleicht erstmals seit "Cop Land" von 1997 wieder so richtig in voller Gänze zeigen kann, was für ein famoser Charakterdarsteller in ihm schlummert. Manfredi amüsiert sich darüber, wie simpel gestrickt das Leben in Tulsa doch ist. Er ist ein Archetyp des US-Kinos, eine Figur wie von John Wayne gespielt, der konservative Rebell. Und das geweihte, wilde Land liegt ihm zu Füßen, die staubigen Straßen, flirrenden Lokale und endlosen Wüstenlandschaften. Die Welt ist für einen wie Manfredi kompliziert geworden, in Tulsa kann er sie sich aber wieder ganz einfach machen. Doch seiner Einsamkeit, tief in ihm drinnen, entkommt er nicht. "Tulsa King" zeigt diesen Mann auch als einen, der Angst vor Veränderungen hat, dessen Alphamännchengehabe nur seine Überforderung mit der Welt kompensieren soll.
"Tulsa King" steht in bester Tradition zu den Kinomythen, aus denen der Stoff hervorging – ob nun dem Western (das freie Land, das erobert werden muss) oder dem Aufsteigermärchen (der Außenseiter/Underdog kämpft sich an die Spitze). Stallone wird hier endlich zu seinem großen Vorbild Marlon Brando. Sein Spiel ist immer auch ein Schauspiel seiner Figur, die Faust hat er tatsächlich in mehrfacher Hinsicht im Nacken. Er erobert das Land vor ihm, er gewinnt die Gunst seiner ihn Umgebenden, aber nichts kann die Lücke schließen, die in seinem Inneren klafft. "Tulsa King" ist ganz nah an den großen Charakterstudien der 60er und 70er Jahre, zugleich aber auch ihre konsequente Fortsetzung, ihr filmisches Erbe. Als moderne Serienproduktion erlaubt sie Einblicke in all die kleinen Momente abseits der "Mission", in die kleinen schrägen und lustigen Situationen, in die einer wie Manfredi gerät, wenn er sich auf entspannte Kiffertypen wie Bodhi oder ambitionierte Polizistinnen wie Stacy einlässt. Es ist den famosen Drehbüchern und dem begnadeten Ensemble zu verdanken, dass "Tulsa King" nicht bloß eine Sylvester-Stallone-Show ist, sondern sich Tulsa wie ein lebendiger Ort anfühlt – nur vielleicht in einem, der seit Jahrzehnten im Winterschlaf verharrt.
Sylvester Stallone hat seinen Ikonenstatus zurecht. Er hat einst als Autor und Darsteller von "Rocky" das US-amerikanische Kino nachhaltig geprägt, seine Figuren und er selbst sind Meilensteine der Popkultur. Es ergibt nur Sinn, dass er es jetzt ist, der im TV seinen eigenen Typus aufbricht und ihn altern, aber nicht veralten lässt. Man kann "Tulsa King" wie einst seinen Boxerfilm als Geschichte über den amerikanischen Traum sehen: Fleiß und Hartnäckigkeit zahlen sich irgendwann aus, werfen Profit ab und – noch besser – machen einen vielleicht sogar glücklich. Es passt wunderbar ins Bild, dass er zum Ende seiner Karriere auf dieses Thema zurückkommt, denn wo steht eigentlich geschrieben, dass den amerikanischen Traum nur junge Menschen träumen dürfen, nicht aber die alte Generation?
"Tulsa King" ist ein Abgesang auf das alte Hollywoodkino, auf US-amerikanische Kleinstadt- und Gangstermythen und auf Sylvester Stallone selbst, zugleich aber auch ihre vielelicht letzte große Feier. Eine so große Ikone wie Stallone braucht eben auch einen ganz großen Abgang. Zum Glück hat er den hier noch nicht erreicht: Eine zweite Staffel "Tulsa King" ist bereits in Arbeit.
Eine neue Folge "Tulsa King" erscheint seit dem 19. März 2023 immer wöchentlich bei Paramount+ im Abo.