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"Citadel" bei Prime: Warum die super teure Event-Serie ein totaler Reinfall ist

Meinung | Ein irres Millionen Budget hat Prime Video in die neue Actionserie "Citadel" investiert. Es ist der größte Start des Jahres für den Streamingdienst. Unser Redakteur Michael Hille hat drei der insgesamt sechs Folgen vorab gesehen – und fragt sich seitdem, was man sich dabei nur gedacht hat.

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Die Prämisse von "Citadel" ist in wenigen Sätzen erklärt. Citadel ist eine global operierende Geheimdienstgruppe, die keiner Nation untersteht, und sich im ständigen Kampf mit dem Terror-Netzwerk Manticore befindet. Die beiden Citadel-Top-Agenten Mason Kane (Richard Madden) und Nadia Sinh (Priyanka Chopra Jonas) schlagen den Manticore-Schergen immer wieder aufs Neue das Handwerk – bis irgendetwas komplett schiefläuft. Acht Jahre später leben Mason und Nadia getrennt voneinander ein normales Leben mit neuen Identitäten. Ihre Erinnerungen wurden gelöscht, von ihrer einstigen Spionagelaufbahn wissen sie nichts mehr.

Bis – natürlich – Ex-Boss Bernard Orlick (Stanley Tucci) vor der Tür steht und beide reaktiviert, um ein weiteres Mal gegen Manticore vorzugehen. Von da an folgt eine große Actionszene auf die nächste und rund um den Globus stürzen sich Kane und Sinh ins Abenteuer. Gut: Nun muss eine Serie natürlich das Rad nicht zwingend neuerfinden. Aber "Citadel" soll für Amazon Prime Video die ganz große Eventserie 2023 werden. Eine zweite Staffel wurde schon vor Start bestellt, zudem sind Ableger aus aller Welt (u.a. aus Indien und Italien) bereits in Arbeit. Ungefähr 300 Millionen US-Dollar flossen allein in Staffel eins, somit ist "Citadel" die zweitteuerste Serie, die bislang je produziert wurde. Und was bekommt man für das viele Geld? Eine schale und lustlose Vermengung zahlreicher Agentenklischees aus "James Bond"-Filmen, "Mission: Impossible", "Die Bourne Identität" und "Mr. & Mrs. Smith".

"Citadel" ist nicht mal schlecht genug zum Hate-Watching

Foto: Amazon Prime Video, In "Citadel" funkt es zwischen Richard Madden und Priyanka Chopra Jonas nur dann, wenn mindestens einer von ihnen durch die Gegend ballert.

Wie erst kürzlich ein ausführlicher Bericht zu Prime Video im Hollywood Reporter darlegte, ist bei "Citadel" schon hinter den Kulissen alles schiefgelaufen, was schiefgehen konnte. Der ursprüngliche Serienmacher Josh Appelbaum, Episodenregisseur Brian Kirk und deren halbes Team wurde aufgrund "kreativer Differenzen" nach Abschluss der Dreharbeiten entlassen. Die Brüder Joe & Anthony Russo (bekannt für "Avengers: Endgame") verantworteten die Serie bis dato als Produzenten, schrieben nun aber selbst die Drehbücher um und nahmen hinter der Kamera Platz. Aufwendige Nachdrehs wurden beauftragt, die das Budget eskalieren ließen. Am Ende schnitt man aus acht sechzigminütigen Folgen nur noch sechs gerade mal knapp vierzigminütige Folgen, entfernte ganze Handlungsstränge im Schnitt und stellte Actionszenen teils an komplett andere Stellen als ursprünglich geplant.

All diese Probleme sieht man "Citadel" mühelos an. Die eigentliche Geschichte der Serie wird fast nebenbei erzählt, in den ersten drei Folgen dominieren wüste Actiongewitter, die ohne jedes Gespür für Tempo und Spannung aneinandergereiht werden und zudem teilweise fürchterlich mies getrickst sind. Insbesondere bei der Anfangsszene in einem fahrenden Zug und einer späteren Verfolgungsjagd auf Skiern fragt man sich glatt, wo das viele Geld hingeflossen ist. Priyanka Chopra Jonas und Richard Madden entwickeln keinerlei gemeinsame Chemie, wirken beide fehlbesetzt und verleihen ihren Charakteren überhaupt keine Tiefe – aber wie auch, wenn man ihre Schauspielleistungen so offensichtlich komplett zerschnitten hat. Für wen "Citadel" gedacht sein soll, bleibt indes offen. Genre-Fans werden all diese Versatzstücke schon tausendfach kennen und genauso oft besser eingesetzt gesehen haben, Fans der Stars bekommen von ihnen nahezu nix geboten, und die Schauwerte sind vor lauter digitaler Künstlichkeit nicht der Rede wert. Die Serie ist nicht mal so schlecht, dass sie sich aus einem Trash-Reiz heraus als Guilty Pleasure oder Hate-Watch anschauen lässt – sie ist einfach nur schrecklich belanglos und entsprechend langweilig. Solche Produktionen stammen von Menschen, die nicht mehr von "Kunst" oder "Unterhaltung" sprechen, sondern nur noch von "Content".

Streaming auf Abwegen: Spektakel für den kleinen Bildschirm

Foto: Amazon Prime Video, Wenn die Hintergründe so schlecht animiert sind wie in "Citadel", dann kann man den Greenscreen auch einfach gleich sichtbar lassen.

"Citadel" ist nur das Symptom eines viel größeren Problems. Die letzten Jahre häufen sich bei den Streamingdiensten sündhaft teure Blockbusterproduktionen, die alle unter denselben Problemen leiden: Sie sind figürlich wie inhaltlich äußerst dünn, dafür vollgespickt mit großen Namen, bieten lächerlich viel Action, die allerdings hinsichtlich der Spezialeffekte weit hinter dem aktuellen technischen Stand zurückbleibt. Netflix hat sich so mit den missratenen Actionkrachern "Red Notice" (mit Dwayne ‚The Rock‘ Johnson, Ryan Reynolds und Gal Gadot) und "The Gray Man" (mit Ryan Gosling, Chris Evans und inszeniert von den Russo-Brüdern) Millionengräber geschaufelt, Prime ist jetzt mit "Citadel" dran und bei Apple TV+ kassiert gerade "Ghosted" (mit Ana de Armas und erneut Chris Evans) Spott und Häme von Kritik und Publikum. Man will das Sommerkino bedienen und all die Leute abholen, die gerne große und laute Unterhaltungsfilme ohne Anspruch konsumieren. An solchen Filmen ist grundsätzlich auch gar nichts falsch.

Doch diese Mega-Budget-Produktionen fürs Streaming zu produzieren, zeigt einen Irrtum auf. Wer dafür ins Kino geht, der will dort das große Event, ob das nun die bildgewaltigen Actionsequenzen eines "Top Gun: Maverick" oder die fantastischen Welten eines "Avatar: The Way of Water" bieten. Marvels Superhelden-Effektgewitter, die "Transformers"-Schlachten oder "Fast & Furious"-Karambolagen, sie alle haben auf der großen Leinwand ihre Kraft und ihren Daseinsberechtigung. Dort zünden sie in vollem Umfang, dort wummert ihr Sound durch die vielen Lautsprecher. Auf dem kleinen Bildschirm daheim stehen eher andere Qualitäten im Vordergrund. Nicht umsonst sind es oft Formate wie "Squid Game", "The Marvelous Mrs. Maisel" oder "The Last of Us", die auf den Streaminganbietern Hypes auslösen. Hinter ihnen verbergen sich keine zwanghaft auf spektakulär getrimmten Bilder voller Starpower in reizüberflutender Geschwindigkeit, sondern clevere Konzepte und emotionale Geschichten mit faszinierend menschlichen Figuren, die einen auf dem Sofa fesseln – und die braucht es, erst recht, wenn man wie bei "Citadel" Woche für Woche einschalten soll.

Gerade gibt es in den USA Diskussionen darüber, ob es in Zukunft rechtlich möglich sein wird, bei Filmproduktionen irgendwann ganz auf Drehbuchautoren zu verzichten und Filme oder Serien nur noch per Chat GPT oder andere KI-Technologien schreiben zu lassen. Die schlechte Nachricht: Bei so ausgelutschten und generischen Handlungen und Dialogen wie in "Citadel" könnte es eine KI auch nicht mehr groß schlechter machen.

Eine neue Folge "Citadel" erscheint immer freitags bei Amazon Prime Video.