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"37 Sekunden" legt den Finger in die Wunde: Ob sich die ARD-Serie lohnt

37 Sekunden, Kritik
In nur "37 Sekunden" verändert sich das Leben von Leonie und Carsten für immer. ARD Degeto

Meinung | Die ARD-Serie "37 Sekunden" passt perfekt in den Zeitgeist. Aber ist sie deshalb auch sehenswert? Unser Redakteur hat sie sich im Vorfeld angesehen.

Leicht anzuschauen ist "37 Sekunden" nicht. Alles dreht sich in der ARD-Serie um einen Vorfall, der kaum länger als eine halbe Minute gewesen ist, aber das Leben gleich mehrerer Menschen auf den Kopf stellt. Es geht um den Rockstar Carsten (Jens Albinus) und die junge Leonie (Paula Kober). Seit Monaten hatten sie eine wilde leidenschaftliche Affäre, doch die muss jetzt enden, immerhin ist Leonie die beste Freundin von Carstens Tochter Clara (Emily Cox).

Doch auf der Geburtstagsfeier des Rockmusikers kommt es zu einer letzten sexuellen Handlung der beiden. Leonie wird der Polizei gegenüber später schätzen, es habe "37 Sekunden" gedauert. Er hat sie gegen die Wand gedrückt, hinterher wurde ihr klar: Sie hat es nicht gewollt. Sie hatte auch "Nein" gesagt, doch Carsten hat es falsch gedeutet – oder willentlich ignoriert. Polizisten, Anwälte und Freunde werden in den insgesamt sechs Episoden sich alle ihr eigenes Urteil dazu bilden, ob ihr "Nein" deutlich genug war, ob es sexueller Missbrauch war, ob Carsten ein Vergewaltiger ist.

Stich ins Wespennest: ARD-Serie ist wahnsinnig aktuell

Foto: ARD Degeto, Die Affäre zwischen Leonie und Carsten haben beide genossen, doch dann kommt es zum Übergriff.

Kaum zu glauben, dass "37 Sekunden" entstanden ist, bevor ganz Deutschland in den Medien vom Fall Till Lindemann zu hören bekam. Noch unglaublicher ist, dass die Serie mit ihrem Titel gar so wirkt, als sei sie direkt durch ein erst jüngst gefälltes Gerichtsurteil in Italien inspiriert. Dort hatte ein Hausmeister einer 17-jährigen Schülerin in die Hose gegriffen, doch weil dieser Übergriff weniger als zehn Sekunden dauerte, sprach das Gericht in Rom ihn frei. Auch Leonie wird Fragen dazu beantworten müssen, wie lange genau die Missbrauchssituation angehalten habe – so als müsse es irgendeine Rolle spielen, ob jemand sich eine Stunde oder "nur" eine halbe Minute falsch verhalten hat.

"37 Sekunden" ist eine überraschende ARD-Produktion, eine in ihrer Tonalität unangenehme Serie, weil sie einfache Antworten vermeidet. Die Situation, um die sich alles dreht, wird in den insgesamt viereinhalb Stunden Laufzeit aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet, und sie alle bekommen von der Erzählung Gehör geschenkt. Autoin Julia Penner, Ko-Autor David Sandreuter und Regisseurin Bettina Oberli wollen psychologisch untersuchen, wie es überhaupt zu Situationen kommen kann, die für eine Frau glasklar als Vergewaltigung empfunden werden, für den Mann aber bestenfalls als "Missverständnis".

"37 Sekunden" beweist: Nur Ambivalenz ist spannend

Foto: ARD Degeto, Die Freundschaft zwischen Leonie und Clara erlebt eine enorme Belastungsprobe.

Um das zu erreichen, wagen sie einen gefährlichen Drahtseilakt: Sie zwingen die Zuschauer dazu, sich in alle Standpunkte hineinzuversetzen. "37 Sekunden" funktioniert nur deshalb, weil die Drehbücher es erlauben, dass auch die Sichtweise des mutmaßlichen Täters nachvollziehbar aufgezeigt wird. "37 Sekunden" ist genau deshalb spannend, weil es nicht in eine simple Opfer-Täter-Gegenüberstellung verfällt, sondern Ambivalenz ermöglicht, Zwischentöne sucht. Nicht die Schuldfrage steht im Vordergrund, sondern das Innenleben der Menschen, die betroffen sind. Gerade die Figur der Clara, wunderbar von Emily Cox gespielt, ist als zwischen den Stühlen stehender Charakter genau richtig angelegt. Einerseits will sie ihrer besten Freundin glauben und ist als Anwältin dem Rechtssystem treu. Andererseits tut sie alles, um den rufschädigenden Skandal abzuwenden, der ihrem Vater droht – verrät dafür gleichzeitig sogar ihre Freundin und ihre Ideale.

Großes visuelles Serienkino ist "37 Sekunden" nicht. Selbst die teils emotionalen Zeugenbefragungen in den letzten beiden Folgen sind vergleichsweise nüchtern und neutral gefilmt, die Regie hält sich auffallend zurück. Dadurch schleichen sich dramaturgische Längen ein. Nicht jeder ruhige Blick, den die Kamera wirft, ist reflektierend. Einiges dauert zu lange, bleibt zu wenig ausschraffiert, gerade die vierte Episode zieht sich ordentlich. Gelungen aber ist, wie "37 Sekunden" im #MeToo-Zeitalter differenziert diese komplexen Themen auf die drei zentralen Figuren herunterbricht und so aus Thesen echte Charaktere schafft.

Vergeigter Schlussakt: "37 Sekunden" vergreift sich im Ton

Wenngleich "37 Sekunden" also kein Hochspannungsfernsehen ist, kein Nägelkauer, darf man sich über die unaufgeregte Herangehensweise an das harte Thema durchaus freuen. Leider ist die Serie dennoch keine uneingeschränkte Empfehlung, denn viel von dem guten Willen, den sich das Format erarbeitet, verschenkt es auf den letzten Metern. Lange wurde psychologisch ansprechend aufgezeigt, wie solche Situationen eine immer stärker werdende Eskalation nach sich ziehen (etwa, sobald der Boulevardjournalismus sich einmischt), wie schnell feste Werte wie Loyalität, Verständnis und sowohl Ein- als auch Rücksicht zu fragilen Konstrukten werden.

Dann aber ist vieles davon in Windeseile zunichtegemacht, dafür reicht eine einzige Szene in der letzten Episode. Gespoilert werden soll an dieser Stelle zwar nicht, doch es kommt zwischen Leonie und Carsten zu einer Handlung, die so fragwürdig ist, die als Wendung so arg an den Haaren herbeigezogen wirkt, dass man es als drastischen Verrat dieser Charaktere und ihrer Geschichte bezeichnen kann. Alles, was vorher so angenehm kompliziert schien, ist plötzlich ganz einfach, banal gar. Die Szene mag nur etwas länger als 37 Sekunden sein, reicht aber aus, um ein bis dahin ordentliches Gesamtbild zu zerstören. Ein unwürdiges Ende für eine vorher erstaunlich würdevolle Serie.

Im TV zeigt die ARD die Folgen 1-3 am Dienstag, den 15.8., von 22:50 Uhr bis 1:05 Uhr. Die restlichen Episoden folgen eine Woche darauf am Dienstag, den 22.8., von 23:05 Uhr bis 1:20 Uhr.

Wenn Sie selbst oder Personen, die Sie kennen, mit sexualisierter Gewalt oder Missbrauchssituationen konfrontiert werden oder Fragen zum Thema haben, steht das Hilfstelefon des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben Ihnen zur Verfügung. Unter der Nummer 116 016 erreichen Sie kostenlos an allen 365 Tagen im Jahr zur jeder Uhrzeit eine ausgebildete und erfahrene Fachkraft, die Ihnen zuhört und Sie, Ihre Situation und Ihre Fragen ernstnimmt.