Die Geschichte endete mit einer Schlammschlacht vor Gericht und einer überraschenden finalen Wendung - und sie ließ keinen kalt: Die sechsteilige ARD-Serie "37 Sekunden", die mit den finalen Folgen in der Nacht zum Mittwoch im Ersten zu Ende ging und nun noch ein Jahr lang in der Mediathek bereitsteht, sorgt in den sozialen Medien für viel Lob und weiterhin für teils heftige Debatten. Natürlich, denn hier drehte sich alles um ein Aufregerthema erster Güte: um sexuelle Übergriffigkeit und Machtmissbrauch in der Musikszene. Konkret ging es um eine Vergewaltigung. Oder eben nicht.

Denn vieles blieb hier offen - oder besser: Es blieb der Einschätzung der Zusehenden überlassen. Wobei es ganz große Kunst war, wie die Serie das Publikum dazu gebracht hat, die eigene Einschätzung je nach Perspektive und Erkenntnisstand immer wieder zu überdenken und zu revidieren. Hier war, wohl nah am Leben, nichts eindeutig - die Protagonisten hatten genau wie die hin- und hergerissenen Zuschauer ihre liebe Mühe damit, den "Fall" zu beurteilen. Was in der Summe ein forderndes, aber genau deshalb herausragendes Stück Fernsehen ergab.

Die Serie erzählt vom 55-jährigen Popstar Carsten Andersen (Jens Albinus, "Borgen"), der, obwohl glücklich verheiratet, eine leidenschaftliche Affäre mit Nachwuchs-Musikerin Leonie (toll: Paula Kober) hat, nebenbei die beste und älteste Freundin seiner Tochter Clara (Emily Cox). Als es am Rande einer wilden Gartenparty auf Carstens Seegrundstück zum Geschlechtsakt zwischen Carsten und seiner heimlichen Liebschaft kommt, fühlt sich Leonie mit ein wenig Abstand betrachtet von Carsten vergewaltigt. Ihre Freundin Clara unterstützt sie zunächst bei dem Plan, die Sache öffentlich zu machen - ohne zu wissen, dass ihr Vater der eventuelle Täter ist.

Leonie postet ein Video in den sozialen Netzwerken, nennt dabei aber nicht den Namen des Mannes, dem sie den sexuellen Übergriff vorwirft. Doch nach und nach eskaliert die Situation, es kommt zum offenen Konflikt und schließlich zum Prozess.

Idee zu "37 Sekunden" kam schon vor MeToo

"Tatsächlich hatte ich die Idee bereits 2015, als von MeToo noch keine Rede war; der Skandal um den Filmproduzenten Harvey Weinstein wurde erst im Herbst 2017 publik", erklärte Autorin Julia Penner im Interview mit der "Stuttgarter Zeitung". "Anhand eines Übergriffs wollte ich die Frage stellen, ab wann aus Sex eine Vergewaltigung wird."

Aber natürlich passt das von Penner (sie spielt in der Serie auch eine kleine Rolle) und David Sandreuter geschriebene Drehbuch zur MeToo-Debatte. Wobei die Serie (Regie: Bettina Oberli, "Tannöd") alles andere als eindimensional von sexueller Ausbeutung im Showgeschäft erzählt, die es natürlich auch gibt, sondern von einer komplexen "asymmetrischen" Amour fou zwischen einem mächtigeren älteren Mann und einer jungen Frau, die sowohl Fan als auch Liebende ist.

Großartig ist an dem wohl besten und vielschichtigsten deutschen TV-Werk zum Thema auch das Ensemble der Nebenfiguren: zum Beispiel Marie-Lou Sellem als verletzte, liebende Ehefrau oder Valentin Mirow als 18-jähriger Sohn Jonas, der beim Vater hinter Halbschwester Clara gefühlt Kind "Nummer zwei" ist.

Vom Psycho- zum Gerichtsdrama

Doch auch Clara hat eigene Probleme. Als die Anwältin, frisch verheiratet mit dem netten Bejan (Camill Jammal), erfährt, dass ausgerechnet ihre beste Freundin den geliebten Vater verklagen will, mit dem sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter alleine aufgewachsen ist, schaltet sie in den Kampfmodus. Bald verbringt Clara mehr Zeit mit dem kompromisslosen Staranwalt Fabian Hauser (Marc Benjamin) als mit ihrem Mann. Während sich am Horizont ein für alle Beteiligten schmerzhafter Prozess ankündigt, eskalieren auch die zwischenmenschlichen Beziehungen der Protagonisten.

Selbst wenn Figurenkonstellation und Plot ein wenig reißbretthaft wirken: Was die auch in den Song- und Musikeinlagen mit viel Liebe zum Detail gemachte Serie schafft, ist, dass alle Figuren äußerst glaubwürdig, angenehm ambivalent und in ihren Bedürfnissen und Motiven sehr lebensecht sind. Ab Folge vier verwandelt sich "37 Sekunden" vom Psycho- in ein packendes Court-Drama, dessen Gerichtsszenen - vor allem jene der Befragung Leonies - zum Spannendsten und Bewegendsten zählen, was das deutsche TV seit langem zu bieten hatte.

Wenn alles normal läuft, sollte die ARD-Produktion für viele wichtige Preise des Fernsehjahres 2023 dick unterstrichen auf der Merkliste stehen. Und einen besseren, komplexeren Debattenbeitrag zum Thema "Vergewaltigung oder einvernehmlicher Sex" dürfte man auch international so schnell nicht bekommen.

"Klasse Serie" oder "unglaublich langatmig"?

In den sozialen Medien erntete die Serie überwiegend überschwängliche Reaktionen: "Durchgesuchtet ... klasse Serie, absolut zu empfehlen!", hieß es da etwa auf der ARD-Facebookseite. Aber auch kritische Stimmen gab es. Diese bezogen sich vor allem auf die Umsetzung und das Erzähltempo des eben auch nicht ganz eingängigen Formats - so wie in diesem exemplarischen Kommentar: "Spannendes Thema, leider habe ich zu viel erwartet. Empfand die Umsetzung tatsächlich unglaublich langatmig. Schade!"

Sehr oft ging die Debatte aber auch immer wieder in inhaltliche Tiefen. Ein User schrieb: "Sehr ambivalentes Gefühl beim Schauen der zweiten Folge. Ehrlich, soll das eine Vergewaltigung gewesen sein? Es ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Natürlich scheint er im Unrecht zu sein, aber ist er es wirklich? Das Umfeld spielt in solchen Fällen offensichtlich auch eine Rolle, und so wird es instrumentalisiert. Die woke Gesellschaft wird es je nach Ausrichtung für sich interpretieren. Ich warte auf den Shitstorm. Aber seid nicht ohne Zweifel ; sonst seid ihr dumm." Nicht wenige gingen auf den konkreten Tatbestand ein. So schrieb eine Userin: "Erste Folge etwas zäh, doch insgesamt hervorragend! Das Ende hat mich sehr berührt und noch mal aufgezeigt, wie schmal der Grat sein kann. Doch eines ist klar, ein NEIN ist ein Nein." Nein, kaltlassen konnte diese Geschichte kaum einen.