2022 war ein wichtiges Jahr für das Kino. Die Einschränkungen der Coronavirus-Pandemie spielten größtenteils keine Rolle mehr und so durfte man gespannt sein, ob im Zeitalter des Streaming-Booms (erst im Dezember startete mit Paramount+ der nächste Digitalanbieter in Deutschland) die Leute da draußen noch Lust auf Kino haben. Ein Kinobesuch ist schließlich so viel mehr als nur Film angucken. Es ist ein Erlebnis, ein Zusammenkommen oder wie man heute modern sagt: ein Social Happening.
2022 hat bewiesen, dass das Kino noch atmet. Gleich drei Filme haben es geschafft, die magische Grenze von weltweit einer Milliarde Dollar Umsatz zu knacken. Zudem war es qualitativ ein bemerkenswertes Jahr: Nach zwei Jahren Corona-Ebbe fanden sich jetzt wunderbare Charakterdramen, atmosphärische Kammerspiele und trotz mancher Flops auch gelungene, bildgewaltige Blockbuster. Ich blicke auf meine Highlights und meine größten Enttäuschungen zurück – und habe einen Wunsch für 2023.
Schneller Abwatsch: Meine miesesten Kinobesuche 2022
Schaffen wir die negativen Erfahrungen schnell aus dem Weg: Gleich Anfang Januar startete ich dank "The King's Man" mit einem so mies hingeschluderten Blockbuster ins Jahr, dass ich schlimmste Befürchtungen für 2022 hatte. Wie hier der Erste Weltkrieg zur Spielwiese für plumpe CGI-Kloppereien verballert wurde, war schlicht unerträglich. Zum Glück wurde es nur selten nochmal so doof: "Tod auf dem Nil" war eine durchweg missratene Krimi-Neuverfilmung. "Amsterdam" war voll mit Stars (u.a. Christian Bale, Margot Robbie), aber leider auch ganz schön langweilig. "Doctor Strange in the Multiverse of Madness" hat mein eh schon geringes Interesse an Marvel-Filmen komplett abgetötet. "Jurassic World: Ein neues Zeitalter" und "Phantastische Tierwesen: Dumbledores Geheimnisse" waren Katastrophen, wurden aber etwas dadurch gerettet, dass ihre Vorgänger gar noch schlimmer gewesen sind.
Arthouse: Die "kleinen großen Leinwände" zeigten famose Geheimtipps
"Arthouse"-Kino hat manchmal einen miefigen Ruf. Zu Unrecht! In den kleineren Programmkinos fanden sich 2022 zahlreiche Highlights: Im Januar und Februar wurden hierzulande noch die Oscar-Favoriten aus 2021 nachgeholt, darunter "Licorice Pizza", "Nightmare Alley" oder "Belfast". Später ging dann auf der "kleinen großen Leinwand" die Post ab: Der schräge Multiversums-Kampfsportfilm "Everything Everywhere All at Once" wurde bereits mit Lob und Preisen überhäuft – zu Recht! "Die Täuschung" erzählte mit herrlich britischen Dialogen von einer der größten Täuschaktionen des Zweiten Weltkriegs, auf die die Nazis reingefallen sind. "Der schlimmste Mensch der Welt" ist für mich seit ich ihn sah die ultimative Komödie zur vermeintlichen Generation Beziehungsunfähig. "Schweigend steht der Wald" bewies mal wieder, dass ganz hochklassige Filmkunst auch aus Deutschland kommen kann. Große Bilder lieferte "The Northman", ein brutales Wikinger-Epos, das bewies, wie radikal es im Kino noch zugehen kann.
Vier Filme möchte ich hervorheben, die es mir besonders angetan haben, die aber teils selbst in den Programmkinos untergegangen sind: Der erste ist "See How They Run". In dieser vergnüglichen Krimi-Perle wird während der Theaterproben für ein Agatha-Christie-Stück ein Crew-Mitglied ermordet und zwei ungleiche Ermittler (Saoirse Ronan & Sam Rockwell) suchen den Mörder. Ein unerbittlich witziger Spaß, der das Geschichtenerzählen selbst auf die Schippe nimmt. "The Outfit" war sogar noch besser, ein exzellentes Kammerspiel, in dem ein Schneider aus den 50er Jahren in kriminelle Aktivitäten verwickelt wird, als nachts zwei Mafiosi vor seiner Tür stehen. Ich verspreche: Wer sich "The Outfit" anschaut, klebt begeistert an den Lippen aller Akteure und erlebt gleich mehrfach eine große Überraschung.
Meine "Arthouse"-Highlights sind aber zwei andere: Da wäre "Triangle of Sadness", der große Festival-Abräumer, eine breit angelegte und zum Totlachen lustige Satire auf Wohlstandsverwahrlosung und die immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich. Bei keinem anderen Film wurde im (übrigens proppevollen) Kino so sehr gelacht. Und dann wäre da noch "The Innocents": Dieser norwegische Horrorfilm geht wirklich an die Substanz. Es geht um vier Kinder aus einem Sozialbau, keines älter als 9 Jahre. Sie alle haben telekinetische Kräfte, können Dinge per Gedankenkraft bewegen oder gar Erwachsene manipulieren. Was mit harmlosen Experimenten anfängt, wird zu einem grausamen Höllentrip, der einem so richtig in die Magengrube schlägt. Nix für Zartbesaitete, aber unbedingt sehenswert.
"Top Gun", "Batman" & "Avatar" bewiesen, wie mächtig das Kino ist
Man kann über 2022 gar nicht reden, ohne "Top Gun: Maverick" zu erwähnen. Die Kultfilm-Fortsetzung war auf der großen Leinwand der schiere Wahnsinn. Tom Cruise, der irrste Star der Welt, setzte sich unzählige Stunden in echte Kampfjet-Cockpits, um einen Kino-Kracher zu gewährleisten, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte. Und die dankte es ihm: Der Film wurde der größte Erfolg des Jahres. Eine Sensation. Sogar Oscar-Chancen werden ihm zugesprochen. Oscars für "Top Gun 2" – das war vor 12 Monaten nicht mal als Witz denkbar.
Ähnlich bildgewaltig ging es zu in "The Batman", ein Film, der in der TVSPIELFILM.de-Redaktion alle vom Hocker haute und zeigte, dass teure Budgets, Superheldenfiguren und richtige Kinokunst sich nicht ausschließen müssen. Gerade in einem Jahr, in dem Superheldenfilme schwächelten (die neuesten Abenteuer von "Thor" und dem "Black Panther" waren kaum der Rede wert, auch Dwayne Johnson als "Black Adam" schlug neben seinen Gegnern bestenfalls die Zeit tot), war "The Batman" ein Ausrufezeichen. Großes Charakterdrama in Strumpfhosen, ein Hingucker!
Eines fehlte 2022 oft: Die gesunde Mitte
Tolle Blockbuster gab es mehr als üblich, das Arthouse-Kino brachte uns viele schöne Highlights. Doch was mir wirklich fehlte, waren Filme aus der Mitte. Große, teure Produktionen, die aber nicht gleich das dreistellige Millionen-Budget bemühten. Filme, die abseits vom Programmkino und den großen IPs wie Superhelden und Fortsetzungen ein Publikum erreichten. Nur einige wenige bemühten sich: "The Woman King" brachte das Schlachtenkino à la "Braveheart" zurück, und hätte gerne ein größerer Erfolg werden dürfen. "Bullet Train" steckte Brad Pitt in einen Zug voller Auftragsmörder, sorgte für viel Remmidemmi und war in seiner irrwitzigen Mischung aus Anime, Gruppentherapie und Guy Ritchie auf LSD ein großer Spaß.
Wirklich beeindruckt hat mich aber "Nope". Beworben wurde der als Horrorfilm, doch Jordan Peele hat stattdessen eine bildgewaltige Verbeugung vor dem Kino als Kunstform inszeniert. Ein paar Farmer gehen mit einer Kamera auf die Jagd nach einer geheimnisvollen Wolke, und das Ergebnis ist sowohl eine Liebeserklärung als auch eine Kritik an der manipulativen Macht des Bewegtbildes. Ein unglaublich-geniales Meisterwerk! Seine größte Leistung ist aber, ohne ein gigantomanisches Marvel-Budget trotzdem außerhalb der Programmkinos gelaufen zu sein.
Für 2023 wünsche ich mir, dass solche Filme wieder mehr werden. Die großen Überraschungen, die aber nicht einigen wenigen vorbehalten bleiben, sondern im großen Multiplex-Kino ihren Platz bekommen. Denn da, allen Streaming-Erfolgen zum Trotze, gehören Filme nach wie vor hin.