Ein Mann hat im Alleingang das Horrorkino der jüngeren Filmgeschichte geprägt: Jordan Peele. Der ehemalige Komiker hat es mit nur zwei Filmen als Regisseur und Autor geschafft, sich als Meister des Genres zu etablieren und zum Synonym für klugen Grusel zu werden: Für sein Debüt, die verängstigende Rassismus-Parabel "Get Out" gewann er einen Drehbuch-Oscar. Sein Doppelgänger-Schocker "Wir" begeisterte mit einem der fintenreichsten Plots, die man je in einem Horrorfilm zu sehen bekam.

Peele ist schon jetzt seine eigene Marke. Kein Wunder also, dass die Trailer zu seinem dritten Film "Nope" gar nicht verrieten, worum es inhaltlich geht, sondern vor allem mit seinem Namen warben. Richtig so: Mit "Nope" hat der Großmeister sich selbst übertroffen. So unheimlich, beklemmend und (an)spannend wurde es lange nicht mehr im Kino. "Nope" ist gemacht für die größtmögliche Leinwand! Aber: Wovon handelt er denn nun eigentlich?

Kleine Warnung: Um den Film einigermaßen bewerten zu können, müssen leichte Spoiler erfolgen. Wer also wirklich gar nichts wissen will, sollte sich die Kinokarte direkt kaufen.

Über den Wolken muss das Grauen wohl grenzenlos sein

Der sonderbare Otis Jr. Haywood (Daniel Kaluuya), genannt "OJ", betreibt gemeinsam mit seiner jüngeren Schwester Emerald (Keke Palmer) in einem kalifornischen Wüstental eine Pferderanch. Als einzige Afroamerikaner in den USA trainieren sie Pferde für Film- und TV-Produktionen – und liegen dabei im ständigen Streit mit ihrem "Nachbarn" Ricky Park ("The Walking Dead"-Star Steven Yeun), einem ehemaligen Kinderstar, der nicht weit von der Haywood-Ranch entfernt einen Wildwest-Themenpark betreibt. Da ereignet sich ein mysteriöser Schicksalsschlag: Ihr Vater Otis Haywood Sr. (Keith David) verstirbt, als aus unerklärlichen Gründen eine Fünf-Cent-Münze vom Himmel stürzt und durch seinen Augapfel kracht.

Geschockt beginnen die Haywoods kurz darauf, immer mehr seltsame Ereignisse wahrzunehmen: Der Strom fällt aus, die Pferde spielen verrückt oder verschwinden gar. Emerald hat einen Verdacht, was die Phänomene verursacht, denn es steht eine große Wolke am Himmel, die sich nie bewegt. Diese Erkenntnis reißt OJ aus seiner Lethargie: Er vermutet, dass sich in der Wolke ein UFO versteckt – und will als erster Mensch die Existenz von Außerirdischen beweisen. Um ein Foto von dem ominösen Inhalt der Wolke zu machen, holt er sich zwei Spezialisten: den Überwachungstechniker Angel Torres (Brandon Perea) und den legendären Kameramann Antlers Holst (Michael Wincott). Letzterer tritt mit einer sündhaft teuren IMAX-Filmkamera ausgestattet die Jagd nach dem UFO an …

Unheimliches Spektakel der dritten Art

Universal Pictures

Gefilmt ist "Nope" gar wie ein Western, doch es handelt sich hier eigentlich um Sci-Fi-Horror.

An bildgewaltigen Filmen ist das Kinojahr 2022 bislang nicht arm: "The Batman" schuf grandios düstere Einstellungen, "Top Gun: Maverick" begeisterte mit unerhört packenden Aufnahmen aus echten Kampfjet-Cockpits. "Nope" reiht sich hier nahtlos ein. Peele inszeniert die Wüstenlandschaft Kaliforniens, ihre offenen Flächen und Hügel, mit epischer Wucht, filmt in aufregend großen Bildern und zieht das Publikum tief rein in diese etwas abseitige Welt. Wenn dann die – lange unklare – Gefahr von oben ihren Schrecken walten lässt, sich der Himmel auftut, Sandfontänen ganze Menschen und Pferde in die Luft reißen oder aus der geheimnisvollen Wolke gar Blut regnet, sind das Aufnahmen, wie sie nur auf der ganz großen Leinwand ihren Zauber und ihren Schrecken entfalten. Peele liebt das Kino seiner Vorbilder: Seine Naturaufnahmen erinnern an den großen Western "Der schwarze Falke" von John Ford und wenn die Kamera zum Himmel schaut, ist Steven Spielberg mit seinem "Unheimliche Begegnung der dritten Art" nicht weit.

"Nope" ist aber mehr als nur Spektakel: Es ist ein Film über unser Bedürfnis nach Spektakel. Nicht nur geht es um die Macht von Bildern (nur mit Fotos kann die Existenz eines UFOs bewiesen werden), sondern um die tödliche Gefahr unseres Spektakeldrangs. Ihre Lust und Sensationsgier darauf, einen Blick auf das mögliche UFO zu werfen, bringt OJ und seine Schwester erst in Lebensgefahr. Sie werden freiwillig zu Jägern und machen sich damit zu Gejagten. Sie setzen ihr Leben, ihre Geschichte und ihr Wissen für ein Bewegtbild aufs Spiel. Man kann "Nope" als Kritik am aktuellen Blockbuster-Kino lesen, an der Hollywood-Maxime, alles immer größer, höher und spektakulärer gestalten zu müssen – und dafür das Reale, Authentische zu vernachlässigen.

Ist bei diesem Film irgendwer nicht fantastisch? Nope!

OJ erfährt von diesem Prozess im Filmemachen am eigenen Leib, als bei einem Filmdreh sein Pferd durch eine Attrape ausgetauscht wird, da die ganze Szene eh per Computereffekte modelliert werden soll. Überflüssig zu erwähnen, dass Peele wo immer es möglich war mit möglichst realen Tricks und vor allem nur mit echten Pferden arbeitet. Doch alles in der Filmwelt, auch die vermeintliche Realität, ist eine Inszenierung – darum geht es auch in "Nope". Die Haywoods sind Schwarze Amerikaner, die um Anerkennung kämpfen. Sie erschwindeln sich einen Platz in der Filmgeschichte, in dem sie behaupten, ihr Urururgroßvater sei jener reale namenlose (bis heute unbekannte) Schwarze Jockey gewesen, der in einem der ersten Bewegtbilder der Menschheitsgeschichte aus dem späten 19. Jahrhundert zu sehen war.

Jordan Peele widmet sich auch hier wieder seinem Lieblingsthema: Rassismus – und wie dieser für Afroamerikaner reale Horror allgegenwärtig ist. Die Haywoods wollten ihr ganzes Leben lang endlich gesehen werden – und sind jetzt die obsessiven UFO-Spürhunde, die – analog zum Grauen eines Autounfalls – nicht mehr wegsehen können. Um diese komplexen Figuren zum Leben zu erwecken, kann er sich auf famose Schauspieler verlassen, vorneweg Oscar-Preisträger Daniel Kaluuya, der noch nie so subtil auftrat wie hier. Insbesondere "The Walking Dead"-Star Steven Yeun überzeugt außerdem in dem Part als traumatisierter Ex-Sitcom-Darsteller. Heimliche Stars und mit verantwortlich für das durchweg verstörende Horror-Erlebnis sind noch Michael Abels, der Stammkomponist von Peele, dessen Klangteppich für Gänsehaut sorgen, und Kameramann Hoyte Van Hoytema, der in der Vergangenheit mit seinen fulminanten Aufnahmen schon bei den Filmen von Christopher Nolan (vor allem beim Kriegsinferno "Dunkirk") für echte Kinoerlebnisse verantwortlich war.

"Der weiße Hai" an Land: "Nope" darf man nicht verpassen

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Das Genie hinter der Kamera: Jordan Peele vermengt in "Nope" Einflüsse aus "Der weiße Hai", klassischen Western und "Unser Charly".

Gruselig ist "Nope" von Anfang bis Ende, besonders die erste Szene ist grausam spannend: Mitten beim Dreh einer amüsanten Sitcom namens "Gordy"s Home" (die offensichtlich auf Formaten wie "Unser Charly" basiert), beschließt der sonst so putzige Schimpanse am Set, seine Co-Stars vor laufender Kamera zu attackieren, zu beißen, zu töten. Es ist – wie später klar wird – die Vorgeschichte des traumatisierten Ricky Park, vor allem aber ein Musterbeispiel für guten Horror: Von den brutalen Attacken ist fast nichts direkt zu sehen, das Grauen spielt sich im Kopf ab. Nicht der einzige Fall, bei dem sich Peele von seinem Lieblingsfilm "Der weiße Hai" inspirieren ließ: Auch das zentrale Trio, welches letztlich auf UFO-Schnapschuss-Jagd geht, weist verblüffende Parallelen zu den drei Hai-Jägern aus dem Filmklassiker von 1975 auf.

Peele weiß, dass es im Kino viel mächtiger sein kann, etwas nicht zu zeigen, Leerstellen leer zu lassen, keine Antworten zu geben. Mit "Nope" steigt er in die Ruhmeshallen seiner Vorbilder auf, beweist sich als einer der letzten, denen noch echte Kinomagie gelingt. Er befriedigt unsere Lust nach großen Bildern und verspottet uns zugleich, unsere Gier nach Spektakel. Der Horror aber liegt darin, dass er uns mitteilt: Wir können nichts gegen diese Gier tun. Wir werden wieder hinsehen. Und in diesem Film ist hinzusehen tödlich.

"Nope" ist seit dem 11. August 2022 in den deutschen Kinos zu sehen.