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"Oppenheimer" ist ein Epos – vor allem wegen einer Szene

Meinung | Schon Monate vor Kinostart entstand ein großer Hype um "Oppenheimer", ein dreistündiger biografischer Thriller rund um den Erfinder der Atombombe. Unser Redakteur hat den Film jetzt gesehen. Lohnt sich in seinen Augen der Kinobesuch? Ja – aber nur für eine Szene …

Inhalt
  1. 1. Oppenheimer: Wer war der Mann, der die Atombombe baute?
  2. 2. Ein explosives Leben, doch in "Oppenheimer" funkt es nie
  3. 3. "Oppenheimer" ist unnötig kompliziertes Überforderungskino
  4. 4. Kein Knaller, aber: Einmal knallt es in "Oppenheimer" gewaltig
  5. 5. Verschenktes Epos: "Oppenheimer" fehlt das Menschliche

Mit einer Texteinblendung beginnt Star-Regisseur Christopher Nolan ("The Dark Knight", "Inception", "Interstellar") seinen neuesten Film. Doch obwohl dieser "Oppenheimer" heißt und auch von jenem Physiker handelt, klärt der Text nicht über Oppenheimer auf, sondern über Prometheus. Prometheus war ein Titan der griechischen Mythologie, der dem Göttervater Zeus das Feuer aus dem Olymp stahl und es den Menschen schenkte. Dafür wurde er von den Göttern bestraft und gefoltert, erklärt der "Oppenheimer"-Film. Sofort ist klar: Die Geschichte dieses Mannes, dessen Spitzname "Vater der Atombombe" lautet, wird kein heroischer Film über einen Wissenschaftler, dessen Erfindung den Zweiten Weltkrieg beendete und die Welt veränderte. Es wird ein düsterer Film, eine echte Tragödie – über den Gott der Quantenphysik.

Zu Beginn seines Lebens deutet für J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) nur wenig daraufhin, dass er einst das menschliche Prometheus-Äquivalent werden wird. Als Student der damals noch jungen Quantenphysik pilgert er durch Europa und lernt einige der Koryphäen der Physik kennen, darunter den dänischen Niels Bohr (Kenneth Branagh) und den deutschen Werner Heisenberg (Matthias Schweighöfer). Wieder in den USA wird er selbst zum Lehrer an einer Universität, freundet sich mit dem gleichgesinnten Ernest Lawrence (Josh Hartnett) an und etabliert die Quantenphysik in Amerika – bis ihn am 1. September 1939 dieselbe Nachricht in seinen Grundfesten erschüttert wie auch den Rest der Welt: Adolf Hitler ist mit Nazi-Deutschland in Polen einmarschiert.

Oppenheimer: Wer war der Mann, der die Atombombe baute?

Als die Nazis in Dänemark einfallen, verbreiten sich Gerüchte: Angeblich arbeiten Heisenberg und Bohr für Hitler am Bau eines nuklearen Sprengkörpers. Damit wären die Deutschen nicht mehr aufzuhalten. Da wird Oppenheimer vom US-Militär in Gestalt von Leslie Groves (Matt Damon) aufgesucht. Er bietet dem Wissenschaftler einen Job an: Oppenheimer soll mit den besten Physikern der USA ebenfalls an einer Atombombe bauen, einer Bombe, die "alle Kriege beenden" soll. In der Wüste von Los Alamos entsteht eine ganze Kleinstadt: Damit die vielen Genies, darunter Richard Feynman (Jack Quaid), Kenneth Bainbridge (Josh Peck), Edward Teller (Benny Safdie) und Enrico Fermi (Danny Deferrari), anreisen und über Monate am sogenannten Manhattan-Projekt mitwirken, wird die Stadt so gebaut, dass sie alle ihre Frauen und Kinder mitbringen können. Auch Oppenheimer bringt seine Gattin Kitty (Emily Blunt) mit in die Wüste, wo nach langer Arbeit der Bau der Bombe wirklich gelingt und beim legendären Trinity-Test erfolgreich gezündet wird.

Was danach geschah, ist Geschichte: Noch vor dem erfolgreichen Trinity-Test verliert Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg, Hitler erschießt sich im Führerbunker. Aber die Japaner kämpfen weiter. US-Präsident Harry S. Truman (Gary Oldman) zwingt sie in die Knie, in dem er je eine Atombombe auf die Städte Hiroshima und Nagasaki abwerfen lässt. Es sind zivile Ziele. In den Folgemonaten und Jahren wird Oppenheimer von schweren Schuldgefühlen geplagt und tritt zunehmend als politischer Gegner auf, als die USA an einer noch verheerenderen Bombe, der Wasserstoffbombe, forschen.

Ein explosives Leben, doch in "Oppenheimer" funkt es nie

Foto: Universal Pictures, Gefeiert für eine Massenvernichtungswaffe: "Oppenheimer" wurde durch die Atombombe zum Volkshelden.

Das Leben des J. Robert Oppenheimer ist groß, so groß, dass Christopher Nolan für seinen Film eine Länge von 181 Minuten benötigt und dennoch nur so durch die Szenen hetzt. In seinem biografischen Epos sind gar mehr Schnitte als in vielen neumodischen Actionfilmen zu finden. Oppenheimers Zeit in Europa, sein Leben als Lehrer in Berkeley, seine Rekrutierung durch Groves, seine Planung des Manhattan-Projekts, der Bau der Bombe, die vielen (auch moralischen) Diskussionen unter den Physikern – durch all diese Ereignisse hastet Nolan mit einem überfordernden Tempo, in dem nie die Zeit bleibt, zu reflektieren und diesen Mann kennenzulernen. Nolan hakt die biografischen Stationen des Physikers detailgetreu und mit höchster Akribie ab, doch dieser Person näher auf den Zahn zu fühlen, dem man da immerhin drei Stunden zuschauen soll, will nicht gelingen.

Zumal Nolan es bei Oppenheimer als Physiker nicht belässt. Auch dessen Privatleben soll abgehandelt werden. Sein Bruder Frank (Dylan Arnold) war Mitglied der kommunistischen Partei, und obwohl Oppenheimer nie selbst überzeugter Kommunist war, so hatte er kommunistische Freunde wie Haakon Chevalier (Jefferson Hall) und ein Parteimitglied namens Jean Tatlock (Florence Pugh) als Geliebte. All das also quetscht Nolan in einem irren Erzähltempo in seinen Film – und wer nicht bereits kräftig viel Mitwissen über diese wahre Geschichte mitbringt, wird gewaltige Probleme bekommen, dem Film vollends zu folgen. "Oppenheimer" erzählt ein großes Leben, übernimmt sich aber in den Details. Was vor allem Oppenheimers Liebesleben im Film zu suchen hat, bleibt unklar. Florence Pugh ist nur in drei kurzen Szenen zu sehen und darf dabei wenig mehr tun, als sich oben ohne zu zeigen. Emily Blunt wird als besorgte, dem Alkohol zugetane Hausfrau verschenkt. Oppenheimers zwei Kinder sind so gut wie nie zu sehen. Ob ihre Namen überhaupt fallen, geht unter.

"Oppenheimer" ist unnötig kompliziertes Überforderungskino

Foto: Universal Pictures, Robert Downey Jr. war bei Marvel als "Iron Man" ein Bombenbauer – in "Oppenheimer" ist er der Gegner des Atombomben-Vaters.

Und obwohl all das nicht kompliziert genug wäre, setzt Christopher Nolan noch eines drauf, denn "Oppenheimer" ist nicht chronologisch erzählt. Der Film hat gleich zwei Klammern: Die eine zeigt Oppenheimer im Jahr 1954, wie er sich in einem geheimen und inoffiziellen Hinterzimmer-Verfahren gegen die Entziehung seiner Sicherheitsfreigabe wehren muss, und dabei vom unerbittlichen Politiker Roger Robb (Jason Clarke) ins Kreuzverhör genommen wird. Dort versucht man, ihn als Kommunisten zu brandmarken, wirft ihm die politischen Ambitionen seines Bruders und seiner Ex-Geliebten vor. Einige Jahre später, in einer Handlung, die nur in Schwarz-Weiß gefilmt wird, bewirbt sich der Selfmade-Millionär Lewis Strauss (Robert Downey Jr.) vor dem US-Senat als Handelsminister im Kabinett von US-Präsident Dwight D. Eisenhower. Dabei geht es in einer öffentlichen Anhörung auch um Oppenheimer, denn Strauss war bei der politischen Diskussion um den Bau einer Wasserstoffbombe Oppenheimers schärfster Gegner.

Verworrener hätte Christopher Nolan seinen Film kaum aufbauen können. So gerät der Kinobesuch zum anstrengenden Parforceritt, es wirkt gar, als würde man sich ein Hörbuch über Oppenheimer versehentlich im Shuffle-Modus anhören. Nolan schaltet zwar alle Register, um den trockenen Stoff zum visuellen Erlebnis zu machen: Er filmt in großen, bedeutungsgeladenen Bildern, unterlegt nahezu die kompletten drei Stunden mit einem wummernden, die Ohren betäubenden Soundtrack von Ludwig Göransson ("The Mandalorian"), zeigt Oppenheimers Obsession mit Quantenphysik und Atomen in abstrakten epischen Partikel-Visionen, doch der Eindruck bleibt. "Oppenheimer" ist ein aufdringlicher, überfordernder Film, der unbedingt ein Event sein möchte, aber unter all seinem Getöse und seiner absichtlich komplizierten Form erschreckend hohl wirkt.

Kein Knaller, aber: Einmal knallt es in "Oppenheimer" gewaltig

Foto: Universal Pictures, Der Trinity-Test ist das große Highlight des "Oppenheimer"-Films.

Dennoch muss man diesen Film im Kino gesehen haben, man könnte gar schreiben: Wenn man diesen Film überhaupt sehen muss, dann auf der größtmöglichen Leinwand. Denn trotz aller dramaturgischen Schwächen, trotz vieler der wenig überzeugenden Ideen und der wichtigtuerischen Gestaltung blitzt in einer Sequenz das Genie des Mannes auf, der mit "The Dark Knight" oder "Inception" zwei moderne Klassiker der Filmgeschichte schuf. Nach etwa zwei Stunden nämlich nähert sich "Oppenheimer" dem Trinity-Test und wie Nolan in einer gar zwanzigminütigen Montage sich dieser ersten Atombombenexplosion der Menschheit annähert, wie er dieses weltverändernde Ereignis aufbaut, zuspitzt und letztlich eine der lautesten Explosionen, die je in einem Film zu sehen und hören war, zündet – das ist ganz große Kinomagie und sollte jeder Filmfan mindestens einmal erlebt haben.

In dieser bildgewaltigen, erhabenen Sequenz findet Nolans Film eine Größe und Würde, die seinem Werk sonst abgeht – trotz einer hochkarätigen Besetzung, bei der Weltstarts teils Auftritte von unter zwei Minuten zugestanden bekommen. Selbst Hauptdarsteller Cillian Murphy kann nie wirklich auftrumpfen, zu wenig Futter bekommt er vom Drehbuch, um die Zerrissenheit, die schweren Selbstzweifel und die Ohnmacht gegenüber der eigenen Schöpfung zu verkörpern. Das legendäre TV-Interview von 1965, in dem ein weinender Oppenheimer vor Livekameras die Worte "Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten" spricht, zeigt Nolan nicht. Stattdessen liest Oppenheimer im Film diese Worte beim Sex mit seiner Geliebten vor. Sensationell spielt nur einer: Robert Downey Jr.! Dem "Iron Man"-Star in "Oppenheimer" zuzugucken, ist ein Gedicht. In der Rolle des intriganten Lewis Strauss geht er so auf, wie nie zuvor in seiner Karriere – und ihm dürfte 2023 jeder Schauspielpreis sicher sein. Auch für ihn lohnt sich der Kinobesuch.

Verschenktes Epos: "Oppenheimer" fehlt das Menschliche

Foto: Universal Pictures, Ein stilles Highlight in einem lauten Film: Tom Conti ist grandios understated als Albert Einstein.

Es ist schade, dass Christopher Nolan aus diesem brillanten Stoff selten je mehr rausholen kann als die Wiedergabe eines Wikipedia-Artikels, dass er den Zugang zum Menschen, der immerhin seinen Filmtitel schmückt, nicht findet. "Oppenheimer" hätte ein ganz großer Film werden können – das zeigt eine kurze, gänzlich fiktive Szene, die Nolan mehrfach wieder aufgreift, immer aus Sicht einer anderen Figur. 1947 nämlich trifft sich Oppenheimer an einem kleinen See mit seinem großen Idol Albert Einstein – worüber genau sie sprachen, enthüllt der Film erst ganz am Schluss. Es ist eine ganz kleine Szene in dem sonst so großen Film.

Albert Einstein wird vom 81-jährigen Schotten Tom Conti verkörpert – und sowohl Nolan als auch Conti zeigen Einstein ganz anders, als man es erwarten würde. Er ist hier nicht der überragende Physik-Genius, als das er so oft gezeigt wird, sondern ein kleiner, alter, bescheidener Mann, der das Wissen des ganzen Universums in seinem Kopf sortieren kann, dem bei starkem Wind aber auch schnell der Hut wegfliegt. In diesem kurzen Moment, als Einstein ganz beiläufig seinem davon wehenden Hut nachschaut, liegt der Film, der "Oppenheimer" hätte werden können. Ein Film, nicht über die Götter der Quantenphysik, sondern über die Menschen hinter der Wissenschaft.

"Oppenheimer" ist seit dem 20. Juli 2023 in den deutschen Kinos zu sehen.