Niemand lehrt seine Zuschauer derzeit so das Grauen und Fürchten wie Mike Flanagan. Der Regisseur, Autor und Editor erstellte fürs Kino schon kluge Grusler wie "Ouija: Ursprung des Bösen" und "Doctor Sleeps Erwachen", doch erst bei Netflix wurde er zur eigenen Marke. Seine bisherigen Serien "Spuk in Hill House", "Spuk in Bly Manor" und das meisterhafte "Midnight Mass" wurden zurecht gefeiert, einzig seine Anthologie "Gänsehaut um Mitternacht" konnte 2022 nicht ganz an das hohe Niveau anknüpfen.

Trotzdem ist klar: Flanagan spielt derzeit so gut wie kaum ein anderer mit menschlichen Urängsten. Für seine große Netflix-Abschiedsvorstellung (danach adaptiert er Stephen Kings "Der dunkle Turm"-Buchreihe für Prime Video) hat er sich aber jetzt nochmal eine Hausnummer vorgenommen: Mit "Der Untergang des Hauses Usher" verfilmt er eine legendäre Kurzgeschichte, einen der wohl meist geschätzten Texte von Horror-Ikone Edgar Allen Poe – und dabei übertrifft Flanagan sich nicht einfach nur selbst: Sein "Untergang des Hauses Usher" gehört zu dem besten Serienmaterial, das Netflix je produziert hat.

Netflix-Geniestreich: Spuk in Haus Usher

Der Titel "Der Untergang des Hauses Usher" sorgt bei Eingeweihten erstmal für Irritation. Poes Kurzgeschichte besteht aus nur drei Figuren, eine davon ist ein namenloser Ich-Erzähler. Der große Clou der Geschichte, dass nämlich die innere Fäulnis eines Mannes durch sein zerfallenes Gemäuer symbolisiert und gespiegelt wird, ist zudem hinlänglich bekannt, und oft kopiert worden. Wie soll sich daraus eine Serie mit acht einstündigen Episoden basteln lassen? So viel kann man sagen: Obwohl Flanagan den eigentlichen Text nicht adaptiert, ist seine Serie so voll vom Geiste Poes, wie es nur möglich wäre.

Tatsächlich dient Poes "Usher"-Plot nur als Rahmen für eine größere Erzählung, die in den einzelnen Folgen immer neue Variationen verschiedenster Poe-Geschichten bemüht. "Der Doppelmord in der Rue Morgue", "Die schwarze Katze", "Die Maske des roten Todes", "Grube und Pendel", selbst das umwerfende Gedicht "Der Rabe", sie alle dienen als Vorlagen für einzelne Geschichten in dieser Serie – werden aber immer abgewandelt und in die Moderne übertragen. Wie Flanagan aus dem Poe'schen Fundus plündert, wie er adaptiert, variiert und vor allem modernisiert und wie er all immer wieder neue zeitgenössische Bezüge zu den Kernthemen des Schauerautoren aus dem 19. Jahrhundert findet und spinnt, ist schlicht absolute Spitzenklasse. Aber worum geht es jetzt genau in der Netflix-Serie?

Opioid-Krise à la Poe: "Succession" & "Dopesick" treffen "Twilight Zone"

Netflix / Eike Schroter

Tamerlane (Samantha Sloyan) will den "Untergang des Hauses Usher" nicht leichtfertig hinnehmen.

Roderick Usher (Bruce Greenwood) ist bei Flanagan der Patriarch einer steinreichen Familie, dem einer der größten Pharma-Konzerne der Welt gehört. Durch dubiose Geschäfte mit Schmerzmitteln gehören sie zu den reichsten Amerikanern. Roderick Zwillingsschwester Madeline (May McDonnell) steht treu an der Seite ihres Bruders. Jetzt erst recht, denn – wie die Serie gleich zu Beginn verrät – Roderick hat in den letzten zwei Wochen alle seine sechs Kinder verloren. Die Episoden 2 bis 7 widmen sich so je einem der Kinder und erzählen, wie die Familienmitglieder allesamt zu Tode gekommen sind. Unter ihnen der nichtsnutzige Erbanwärter Frederick (Henry Thomas), der bisexuelle Videospielentwickler Napoleon (Rahul Kohli), PR-Expertin Camille (Kate Siegel) und Clubgänger Prospero (Sauriyan Sapkota).

Nun ist "Der Untergang des Hauses Usher" nicht bloß ein morbid-tödlicher Abzählreim, sondern eine komplexe Erzählung. Die große Tragödie der Familie entspinnt sich im Verlauf der Episoden in einer verworrenen Ansammlung aus Rückblenden, die teilweise mehrfach aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt werden. Und Flanagan ist zu klug, als dass er einfach nur Poes Geschichten mit modernen Horror-Motiven angereichert nacheinander abspulen würde, als Kuriositätenkabinett wie einst in der "Twilight Zone". Seine Version der Usher-Familie ist eine klare Parallele zur realen Sackler-Dynastie, deren zwielichtiges Geschäft mit dem "Medikament" Oxycontin in den USA eine jahrzehnteüberdauernde Opioid-Krise auslöste. Bei Disney+ widmete sich die famose Miniserie "Dopesick" dieser realen Tragödie, bei Netflix selbst gab es mit "Painkiller" ebenfalls eine Serie dazu.

In ihren witzigsten, bissigsten Momenten erinnert Flanagans neuer Spuk daher gar an den Serien-Kritikerliebling "Succession", in dem ebenfalls eine reiche Familie, zerfressen von Erbschaftsstreit und Wohlstandsverwahrlosung, sich minutiös in seinen Intrigen untereinander selbst entlarvt und vorführt. Flanagans Serie mixt so Horror mit Familiendrama und Satire, und hat – auch das typisch für Poe – einen Krimi-Plot in all dem anfänglichen Chaos mit drin: Schon vor dem Wegsterben seines Nachwuchs wusste Roderick, dass eines seiner Kinder ein Spitzel innerhalb der Familie ist, und die Polizei mit Insider-Infos versorgt. Die Rahmenhandlung der Serie bildet daher auch ein Gespräch zwischen Roderick und dem Staatsanwalt C. Auguste Dupin (Carl Lumbly), der die Ushers schon seit Jahrzehnten rechtlich belangen will und sich von Opa Usher bedächtig von den grausigen Todesfällen der Kinder erzählen lässt.

Netflix wird Mike Flanagan bitterlich nachweinen

Netflix / Eike Schroter

Feiern bis alles zerfällt? Familie Usher hat sonst kaum noch andere Möglichkeiten.

Klingt alles etwas überladen? Ist es sicherlich auch, aber das ist der große Spaß, wenn man sich auf einen Horror von Mike Flanagan einlässt. Stil- und zielsicher wie kein Zweiter manövriert er durch eine kaleidoskopische Mixtur unterschiedlicher Tonalitäten und Spielarten: Von Tiermonstern über Bodyhorror bis Geisterbahn-Grusel ist bei ihm jedes Mittel recht, um Nervenkitzel und Schockmomente zu erzeugen, sie werden aber nie zum Selbstzweck. Flanagan spielt mit der Schadenfreude, die sein Publikum dabei empfindet, diese reichen Schnösel auf die möglichst grausamste Art dahinscheiden zu sehen und erzählt dabei ganz subtil auch über die Stolpersteine menschlicher Hybris – eines der zentralsten Themen in Poes literarischem Schaffen. Ganz zu schweigen davon, dass es für sich genommen schon von ziemlicher Hybris zeugt, ein eigenes Horrorprojekt so selbstbewusst mit einem so berühmten Edgar-Allen-Poe-Titel zu verstehen …

Nun kann der geneigte Poe-Fan viele Parallelen zu den aufgezählten Geschichten finden, sich über einen Haufen an Anspielungen und sogenannten "Easter Eggs" erfreuen, doch die wahre Überraschung ist, dass Flanagan es perfekt besteht, die Erzählhaltung Poes für sich zu übernehmen. So sehr seine Geschichten auch als Abrechnung mit scheinbar unverbesserlichen Menschen, die zu Monstern wurden, angelegt sind, so reflektieren sie auch stets die Ursachen für ihr sündhaftes Verhalten, suchen nach Verständnis. Flanagan erzählt von Privilegien, die zu Fesseln werden, berichtet düster und komisch in Bildern von gewaltiger Schönheit von den Langzeitfolgen eines Traumas, das so gewichtig ist, dass es sich durch ganze Generationen ein- und derselben Familie frisst. Und genau wie Poe ist ihm all das zugleich ein Spiel und ein bitterer Ernst. Es ist befreiend, diesen Übeltätern beim Untergang ihres Hauses zuzuschauen, es berührt aber zugleich auch ungemein, mitanzusehen, wie vergänglich all das ist, was eine Dynastie Zeit ihres Lebens so errichten kann.

Mit einem echten Knüller sagt Mike Flanagan seiner bisherigen Streamingheimat Netflix also "Lebewohl", der Anbieter verliert damit eine seiner künstlerisch vielseitigsten Stimmen. Der – kein Witz – ausgerechnet in Salem, der Stadt der Hexenverbrennungen, geborene Film- und Serienmacher hat sein letztes Netflix-Engagement genutzt, um nochmal sein ganzes Können unter Beweis zu stellen. Wer ihn nur auf "Horror" reduziert, macht es sich zu einfach: Noch mehr unerschrockene Konsequenz im Ausloten von Genre-Möglichkeiten hat im Streamingmarkt die letzten Jahre kein anderer bewiesen.

Wann wird es Netflix also gelingen, einen neuen Kreativen an Land zu ziehen, der auf so hohem Niveau exzellente Unterhaltung im Jahrestakt abliefern kann?

Poes Rabe würde wohl antworten: "Nimmermehr"