Was kann das deutsche Fernsehen am besten? Krimis oder? Nicht nur. Serien wie "Dark" oder "Hausen" beweisen, dass mit den richtigen Voraussetzungen in Deutschland Stoff entstehen kann, der weit über die bekannten TV-Genres hinausgeht. Überhaupt nicht übernatürlich oder abgefahren, aber dennoch genauso gut, geht es in einer deutschen Serie zu, die seit kurzem bei Disney+ verfügbar ist und die eine Menge Zuschauer wahrscheinlich verpasst haben. "Das Verschwinden" wurde in vier Doppelfolgen 2017 am Sonntag im Ersten versendet und bekam nicht die Einschaltquoten, die sie verdient hatte. Zeit die Serie nachzuholen!
"Das Verschwinden" ist viel mehr als ein Thriller
Schluss mit der "Tatort"-Leiche, weg mit geklauter Brutalität skandinavischer Krimis übersetzt in deutsche Szenarien: "Das Verschwinden" ist allein deshalb schon ungewöhnlich, weil gleich zu Beginn klar wird, worum es den Machern geht.
Die Altenpflegerin Michelle Grabowski (Julia Jentsch) sucht ihre Tochter Janine (Elisa Schlott), die nach einer durchgefeierten Nacht mit ihren Freundinnen nicht mehr aufzufinden ist. Michelles Sorge steigert sich in eine Panik, als sie herausfindet, dass ihre Tochter mit Crystal Meth zu tun hatte und in das Auto eines unbekannten jungen Mannes gestiegen ist. Die Serie kreist die ganze Zeit um Michelles Verzweiflung und Ohnmacht, die von Jentsch mit einer solchen Finesse rübergebracht wird, dass es einem das Herz bricht.
In dem kleinen bayerischen Dorf an der tschechischen Grenze ist aber nicht nur Janine verloren, es mangelt ihren beiden besten Freundinnen offenbar ebenso an jugendlicher Unschuld. Manu (Johanna Ingelfinger) war schon im Entzug und Laura (Saskia Rosendahl) leidet unter ihrem repressiven Vater. Das alles verbindet die Serie meisterhaft mit der Überforderung der örtlichen, zu dünn besetzten Polizei, die nicht in der Lage ist, das Drogenproblem an der Grenze in den Griff zu kriegen. Dazu kommt ein Generationenkonflikt, wie er aktueller nicht sein könnte. Währenddessen entflechtet Michelle immer weiter das schockierende Netz um das Verschwinden ihrer Tochter. Die Serie ist also in acht Folgen Thriller und Dorf-Panorama zugleich. Gerade da liegt die Genialität.
Kleingeistigkeit, die Leben kostet
Die einzige türkische Familie in der bayerischen Kleinstadt leidet unter dem latenten Rassismus der Polizei und der anderen Anwohner, denn ihr Sohn ist der hauptverdächtige Drogendealer im Fall Janine. Dabei spricht viel gegen ihn als Täter. Gleichzeitig hat jede Familie hinter ihrer mal mehr mal weniger teuren Fassade ein Geheimnis. Genau die sind es aber, die die Kinder zur Weißglut treiben und auch in Gefahr bringen: Bloß den Schein wahren und dafür alles aufs Spiel setzen. Wer vom Dorf kommt, weiß, dass es exakt so läuft.
In einer der besten Szenen geraten Michelle und die junge Manu auf der Suche nach Janine in einen heftigen Streit, weil die Mutter nicht verstehen kann, wie es so weit überhaupt kommen konnte. "Ihr habt doch alles!", brüllt Michelle mit der Verzweiflung einer Mutter, die nichts antreibt, außer Wut und Angst. Nach einem Handgemenge sitzen die beiden im Auto und Michelle gibt zu, dass das Leben selten leicht ist, woraufhin Manu fragt: "Warum wollt ihr dann alle, dass wir so werden wie ihr?" Und das ist nur ein Bruchteil der Präzision, die "Das Verschwinden" zu einer der besten deutschen Serien der letzten zehn Jahre macht.
"Das Verschwinden" ist bei Disney+ verfügbar.