1994: Mark (Jeremias Meyer) ist gerade 16 Jahre alt geworden, lebt bei seiner Mutter (Sabine Timoteo) in Krefelden und gilt in dem Provinzkaff wegen seiner Wutanfälle als Freak. Wären da nicht sein bester Freund Memo (Zoran Pingel) und seine Freundin Becky (Lea Drinda), dann hätte er nur wenig Spaß an seiner Jugend. Dann aber schenkt sein älterer Bruder Thomas (Theo Trebs) ihm zum Geburtstag die sogenannte Chronik, ein Buch über eine fantastische und unheimliche Welt namens "Der Schwarze Turm". In dieser Welt herrscht der Greif, ein furchterregendes Monster.

Aufregend wird es, als Mark erfährt, dass in ihm eine ungeahnte Kraft schlummert: Er kann mittels seiner Gedanken in die Welt des Schwarzen Turms wechseln, die ist nämlich keine Fiktion, sondern Realität. Und als sein Bruder spurlos verschwindet, erfährt Mark, dass er der Auserwählte ist, der sich dem Greif stellen muss … denn Gott bewahre, dass eine Fantasy-Geschichte mal ohne das Narrativ vom Auserwählten auskommt. Und genau in dem Spannungsfeld befindet sich die Prime-Video-Serie "Der Greif": Einerseits gibt es durchaus gelungene Elemente. Andererseits kommt einem das alles viel zu bekannt vor.

Die Fantasy-Welt von "Der Greif" hat Potenzial

Gute Fantasy lebt von dem faszinierenden Design der fiktiven Welt. Nicht umsonst sind Menschen bis heute gebannt vom Mittelerde-Kontinent oder der Zauberschule Hogwarts. Und "Der Greif" hat dank der Romanvorlage genauso eine Welt bereitgestellt. Die Idee eines Schwarzen Turmes, der verschiedene parallele Welten auf seinen Stockwerken vereint, ist spannend und lässt aufregende Möglichkeiten zu. Das Geheimnis um den mysteriösen Greif, der andere Wesen versklavt und durch eine Armee von lebenden Wasserspeiern vertreten wird, fesselt ebenfalls.

Nun mag die Produktion nicht mit US-Standards mithalten können, die Effekte gehen für eine deutsche Serie aber absolut in Ordnung. Gerade in der letzten der sechs rund 50-60 Minuten langen Folgen gelingen einige schöne Einstellungen, die durchaus Fans der Vorlage zufriedenstellen werden. Man darf allerdings keine Vergleiche mit "Game of Thrones", "The Last of Us" oder "The Witcher" anstellen, sondern muss gelegentlich ein Auge zudrücken.

"Der Greif" ist wie Mikrowellen-Essen: Altes neu aufgewärmt

Leider gelingt das bei vielen anderen Elementen der Serie nicht. Anders als im Roman ist die Gewichtung des Fantasy-Anteils in der Serie vergleichsweise gering. In den ersten vier Episoden spielt ein Großteil der Szenen in der normalen Welt, und erzählt eine Jugendgeschichte voller Klischees, die so aus jeder anderen Teen-Serie sein könnte. Besonders bemüht wirkt der Versuch, das Zeitkolorit der 90er einzufangen. "Stranger Things" (dort sind es die 80er) ist das offensichtliche Vorbild, und viel neues fällt den Machern der Serie nicht ein, nur das die Kids statt Kate Bush, den Scorpions oder The Police jetzt eben Radiohead, Pearl Jam oder Nirvana anhören.

Jedenfalls verwundert es, warum die beiden Männer hinter der Show, die Grimmepreisträger Regisseur Sebastian Marka und Drehbuchautor Erol Yesilkaya (beide: "Tatort: Meta"), sich oft weit vom Roman entfernen, nur um dann einen wirklich banalen "Stranger Things"-Abklatsch zu schreiben, in dem keinerlei Spannung aufkommt und die Figuren bestenfalls an der Oberfläche bleiben, oft auf Klischees wie 'der beste Kumpel' oder 'das verliebte Mädchen der Truppe' reduziert werden. Zumal die Elemente, die dann aus der Vorlage übernommen werden, leider schon dort nicht die spannendsten sind, sondern sich in Plattitüden von auserwählten Helden, versklavten Völkern und mysteriösen Kräften ergehen.

Es wäre spannend gewesen, die Fantasywelt der Hohlbeins tiefer zu erforschen oder gar beide Handlungen (Kleinstadtwelt und Schwarzer Turm) zusammenzubringen, sinnvolle Verknüpfungen zu finden. Stattdessen bekommt man in beiden Welten nur aufgewärmte Versatzstücke, die man woanders schon oft besser umgesetzt gesehen hat.

Schade: Deutsche Fantasy will weiterhin nicht so recht gelingen. Wohl weil da meist nur wenig Fantasie in der Fantasy steckt.