Autismus ist eine komplexe, vielgestaltige Diagnose. Die Serie "The Good Doctor" zieht daraus zum einen ­erstaunlich unterhaltsame Epi­sodenplots, vermittelt aber auch eine wichtige Wahrheit über ­Autismus: Kein Fall gleicht dem
anderen, es gibt keinen prototypischen Au­tisten. Andererseits fragt sie auch, ob man eine solche Entwicklungs­störung überhaupt als Krankheit bezeichnen darf.

Die US­-Adaption einer koreanischen Serie zeigt, wie der junge autistische Chirurg Shaun Murphy (Freddie Highmore) im St. Bonaventure Hospital von San ­José Fuß zu fassen versucht. Aufgrund seiner Inselbegabung ist er ein medizini­sches Genie, das den menschlichen Körper wie kaum einer seiner Kollegen kennt. Und doch halten die ihren neuen ­Mitarbeiter als Arzt für ungeeignet. Seine brillanten Diagnosen trägt er ohne erkennbare Gefühls­­regung vor - für die Angehörigen ist das oft nur schwer zu ertragen. Mit die­sem Konzept stieß das Drama in den USA selbst "Navy CIS" vom Quotenthron. Doch nicht überall rief die Serie Begeisterung hervor.

Tanz auf der Rasierklinge
"Shaun Murphy wirkt nicht wie ein autistischer Mann. Er wirkt wie zwei aufeinandergestellte ­autistische Kinder", klagte etwa eine Autistin in ihrem Online­­portal "NOS Magazine". Im "Paste Magazine" wurde der Serie vor­geworfen, die Auffälligkeiten des Protagonisten "manipulativ" einzusetzen. Andererseits gab es auch positive Stimmen aus dem Kreis der Betroffenen. Auf dem Portal "Autism Speaks" wurde "Good Doctor" für den Versuch gelobt, ein realistisches Porträt eines Autisten zu zeichnen und gleichzeitig deren Individualität zu bewah­ren. Das Fazit: "The Good Doc­tor" übersteht den Tanz auf der Rasierklinge sehr gut.

Ein Lob, das vor allem Hauptdarsteller und Produzent Freddie High­more gebührt. Der "Bates Motel"­ Star gab in Interviews an, jeman­den aus dem Spektrum zu ken­nen, ihn aber nicht als Vorbild für die Rolle genommen zu ­haben. "Ich habe viel recherchiert und Dokumentationen über ­Autismus angeschaut. Ich habe versucht, so viel zu lernen, wie ich konnte, und dann geschaut, was sich für Shaun richtig anfühlt." Dass selbst die Kritiker der Serie Highmores Darstellung loben, spricht für seine Leistung.

Wohlwollend wurde auch vermerkt, dass in der siebten Folge mit Cody Bird ein autistischer Schauspieler zum Zuge kam. Denn genauso, wie es für einen wie ihn im realen Leben möglich ist, Medi­ziner zu werden, kann er auch als Schauspieler Erfolg haben. So leben auch Dan Aykroyd und Daryl Hannah mit dem ­Asperger-Syndrom. Forderungen nach mehr Repräsentanz vor der Kamera sind nachvollziehbar - zumal Autismus en vogue ist.

Autismus im Fernsehen
Im Familiendrama "Parenthood" verarbeitete Showrunner Jason Katims seine Erfahrungen als ­Vater eines Sohns mit Asperger. Populäre Figuren aus Serienhits wie Sheldon Cooper ("Big Bang Theory") oder Temperance Brennan ("Bones") sind eindeutig dem Spektrum zuzuordnen, obwohl es nie ausgesprochen wird.

Die Netflix-Serie "Atypical" räumt mit dem Vorurteil auf, dass Autisten nichts fühlen können. Sogar das ZDF hat mit "Ella Schön" (gespielt von Annette Frier) eine Autistin im Angebot, der das Publikum gern zusieht. Zwei neue Filme der "Herzkino"-Reihe sind bereits abgedreht.

In der ersten Folge von "The Good Doctor" will Dr. Glassman (Richard Schiff ) den Aufsichtsrat von Shauns Anstellung über­zeugen. Doch die Ablehnung ­gegen den roboterhaften jungen Mann ist groß: zu unemotional, zu anders, zu... krank. Die Vor­behalte reflektieren vermutlich das, was auch viele Zuschauer über diese uns fremden Formen der Wahrnehmung denken. Dass man seine Bedenken und Vor­urteile hier auf unterhaltsame Weise abbauen kann, zählt zu den großen Vorzügen der Serie.

Ein Vorurteil bedient aber auch "The Good Doctor". Vermutlich als Spätfolge des Roadmovie­dramas "Rain Man" mit Dustin Hoffman denken viele, den sozialen Defiziten der Autisten stünde immer eine singuläre Virtuosität gegenüber. Doch die Inselbegabung ist keineswegs Standard - und andersherum sind nicht alle Genies Autisten.

Erst wenn eine Serie auch eine weniger spektakuläre Form von Autismus zeigt, dürften endgültig alle zufrieden sein. Ob sie dann auch spannend ist, steht auf einem anderen Blatt.