Gut Ding will Weile haben. Manch späterer Kultfilm ist zu Beginn heftig gefloppt. Am Anfang etwa interessierte sich keine Menschenseele für "Blade Runner" oder gar für "Fight Club". Heute sind sie große Klassiker. Auch im Serien-Bereich mag sowas vorkommen. Ein gewaltiges TV-Highlight der 2010er etwa lief in Europa eher am Publikum vorbei – und verdient es, endlich neuentdeckt zu werden, denn qualitativ gehört es in die absolute Spitzenklasse.
Die Rede ist von "Person of Interest", jene kühne Mischung aus Sci-Fi, Action, Thriller und Drama, welche von 2011 bis 2016 lief, und es in fünf Staffeln auf 103 Episoden brachte. Eine vergleichbare Serie wird sich kaum finden: Sie begann als invertierter Krimi, der in seiner Prämisse bereits die Enthüllungen rund um Whistleblower Edward Snowden vorwegnahm. Geendet ist sie als großes Epos, als existenzielle Studie darüber, was das Menschsein eigentlich ausmacht. Doch von Anfang an: Worum genau geht es in "Person of Interest" – und warum sollte jeder echte Serienfan sie gesehen haben?
"Die Maschine ist überall": Darum geht's in "Person of Interest"
"Person of Interest" beginnt damit, dass der totgeglaubte Ex-Geheimagent John Reese von dem exzentrischen Milliardär Harold Finch kontaktiert wird. Finch hat als Technik-Genie für die US-Regierung gearbeitet und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eine Künstliche Intelligenz, genannt "Die Maschine", entwickelt, welche Verbrechen vorhersieht. Das tut sie, in dem sie auf jede Kamera, jedes Mikrofon, jedes Mobiltelefon auf der ganzen Welt zugreifen kann und so die gesamte Menschheit rund um die Uhr ausspioniert. Geplant war, auf diese Weise Terroranschläge zu vereiteln.
Doch die Maschine sagte jede Form von vorsätzlich geplanten Gewaltverbrechen vorher. Weil die Regierung nur an Terroranschlägen interessiert war, ließ sie die Maschine alle 24 Stunden die restlichen Vorhersagen wieder löschen. Nach einem schweren Schicksalsschlag lastete diese Entscheidung schwer auf Harolds Gewissen: Er konnte nicht damit leben, dass überall auf der Welt Menschen starben, obwohl seine Erfindung dies vereiteln könnte. Also baute er eine Hintertür in die Maschine ein: Über jeden Mord, der sich in New York City ereignen wird, informiert die Maschine Harold wenige Stunden vorher. Damit die Regierung die Hintertür nicht bemerkt, schickt ihm die Maschine jedoch nur eine Sozialversicherungsnummer von einer Person, die in das Verbrechen verwickelt sein wird. Ob als Täter oder Opfer, weiß Harold nicht.
Zu diesem Zweck heuert er Reese an. Der soll für ihn die jeweilige Person nicht aus den Augen lassen, ermitteln, ob sie einen Mord plant oder ein Mord an ihr geplant ist und das Verbrechen rechtzeitig verhindern. Eine schwierige Aufgabe, denn schon nach wenigen Einsätzen berichten immer mehr Zeugen bei der ambitionierten Polizistin Joss Carter von einem "Mann im Anzug", der schwer bewaffnet überall auftaucht, wo es Ärger gibt.
Globale Überwachung: Keine Serie ist näher am Puls der Zeit
Überall wird "Person of Interest" als Sci-Fi-Serie bezeichnet, doch das Format erreichte früh ein beängstigendes Maß an Aktualität. Zuschauer dürfen sich regelmäßig fragen: Ist das noch Fiktion oder schon Realität? Überwachung und maximale Transparenz sind eines der zentralen Themen der 2010er gewesen – und Serienmacher Jonathan Nolan erwies sich mit seiner Actionserie als prophetisch. Während die zweite "Person of Interest"-Staffel ausgestrahlt wurde, kam es zum Auftritt des Whistleblowers Edward Snowden, der die Welt über das Überwachungsprogramm des US-Geheimdienstes NSA aufklärte.
Wer die Serie damals live im TV verfolgte, dem dürfte bei all den Enthüllungen ein besonderer Schauer über den Rücken gegangen sein. Nolan ging improvisiert auf diese Entwicklung ein: Zu Beginn der dritten Staffel werden die Snowden-Leaks auch in "Person of Interest" thematisiert. Hier wird erklärt, dass die Regierung den Whistleblower absichtlich habe walten lassen – da das Programm der NSA nur ein Ablenkungsmanöver ist, um die Maschine von Finch geheim zu halten.
Grundsätzlich hinterfragt "Person of Interest" intellektuell und philsophisch die Bedeutung von Künstlicher Intelligenz in einer von Menschen dominierten Welt. Was macht uns menschlich? Ab wann ist ein Individuum lebendig? Und sind unsere Vorstellungen von Moral und Recht unantastbar? Als Lebensretter stehen Reese und Finch hier schließlich über dem Gesetz: Zum Kompromiss versucht Reese bei seinen Einsätzen, niemanden zu töten. Kommt es hart auf hart, schießt er den Angreifern nur in ihre Kniescheiben. Eine kleine Anspielung an den Action-Kulthit "Terminator 2" – jenes filmische Meisterwerk, das 1991 bereits dieselben komplexen Fragen stellte. Auch der Name Reese ist unverkennbar dem Helden Kyle Reese aus der "Terminator"-Reihe entliehen.
Charakterdrama und Hochglanz-Action? Kein Widerspruch!
Eine besondere Qualität der Autoren ist es, in den 103 Episoden die perfekte Mischung aus Actionserie à la "Hawaii Five-0" oder "24" auf der einen, und intelligentem Charakterdrama wie bei "Die Sopranos" oder sogar "The Wire" auf der anderen Seite zu meistern. Die Figuen können gar nicht anders, als einem ans Herz zu wachsen: Das Duo zwischen Reese und Finch ist einzigartig. Comic-Nerds mögen sich etwas an Batman und seinen Butler Alfred erinnert fühlen: Der eine kämpft im Außeneinsatz, der andere hat daheim am Computer die Oberhand. Dennoch ist da eine zutiefst menschliche Komponente, die die beiden ungleichen Helden zusammenwachsen lässt – und die von Jim Caviezel (Reese) und Michael Emerson (Finch) fantastisch verkörpert wird.
Auch später eingeführte Figuren sind phänomenal: Mit der Agentin Shaw und der Hackerin Root schließen sich zwei vielschichtige Frauenfiguren dem Team an, und es ist ein Genuss, so facettenreiche Schauspielerinnen wie Sarah Shahi (Shaw) und Amy Acker (Root) in komplexen Rollen zu sehen. Die heimlichen Helden sind aber die zwei Polizisten der Serie: Taraji P. Henson ist als Carter eine Entdeckung, und wurde zurecht von Kritikern in den Himmel gelobt. Kevin Chapman spielt derweil den Ermittler Fusco und ist als geläuterter, ehemals korrupter Cop das Herz der Geschichten. Sogar die Schurken sind fantastisch besetzt: Der Mafiosi Elias bekommt von Enrico Colantoni mehr Profil als so mancher Held in vielen Serien, Robert John Burke ist als Leiter eines Netzwerks bestechlicher Polizisten ein Widerling sondergleichen und Winston Duke war als Ganganführer so überzeugend, dass er nach "Person of Interest" ins Kino wechselte und bei Marvel für "Black Panther" anheuerte.
Die Action kann sich trotz des großen Fokus auf die Figuren mehr als sehen lassen. Es gibt aufwendige Kampfszenen in nahezu jeder Folge, fantastische Ballereinlagen, wie sie selbst im Kino nur selten zu sehen sind und Autostunts, bei denen James Bond schwindelig werden würde. All das unterlegt mit fantastischer Musik von Ramin Djawadi ("Prison Break"). Erstaunlich ist die irre Qualität der Action vor allem hinsichtlich des dünnen Budgets. Vergleichsweise günstig wurden die fünf Staffeln produziert, weshalb Jonathan Nolan nach Ende der Serie den TV-Sender CBS verließ und für ein Vielfaches mehr an Geld bei HBO die Prestigeserie "Westworld" übernahm: Eine Serie, die übrigens ebenso perfekt emotionales Storytelling mit aufregender Action und hintergründigen Dialogen zu vermengen weiß.
Perfekter Mix: "Fall der Woche" und fortlaufende Story
Das wahrhaftig Geniale an "Person of Interest" ist aber etwas schwieriger zu erklären. Die Serie mixt die zwei ‚Geistesrichtungen‘ der Serienlandschaft, und zwar so subtil, dass es vielen nicht aufgefallen ist: Im Serien-Bereich spricht man entweder von Procedurals oder von Serials. Procedurals sind Serien wie "Navy CIS", "Dr. House" oder "Raumschiff Enterprise", also Serien, in denen jede Folge eine neue, in sich abgeschlossene Geschichte erzählt wird. Serials hingegen sind Serien wie "Breaking Bad", "House of Cards" oder "Game of Thrones", die eine große Geschichte über ihre gesamte Laufzeit erzählen.
Was also ist "Person of Interest"? Die Antwort: Sie ist beides! Sie beginnt mit wöchentlich abgeschlossenen Fällen, in denen Reese verschiedene Menschen vor Mordkomplotten rettet oder sie aufhält, welche durchzuführen. Doch recht schnell ergeben sich aus den einzelnen Fällen vier große Handlungsbögen, die regelmäßig wieder aufgegriffen werden:
- Ein Kampf innerhalb der New-Yorker-Mafiafamilien um die Vorherrschaft.
- "HR", eine geheime, korrupte Organisation innerhalb der New-Yorker-Polizei.
- Rückblenden, die langsam die Vergangenheiten von Reese & Finch enthüllen.
- Dunkle Mächte der Regierung, welche sich der Maschine bemächtigen wollen.
Spätestens nach mehreren unglaublichen Wendungen in Staffel 3 lässt "Person of Interest" die wöchentlichen Fälle gar gänzlich liegen und wird zu einem waschechten Serial. Was als Krimi mit besonderem Dreh begann, endet als postapokalyptische Erzählung, als Epos, in dem die Rettung der Welt auf dem Spiel steht – so radikal traute sich nie wieder eine Serie, sich selbst neu zu erfinden und ihr Erfolgskonzept umzuwerfen. Für Seriennerds heißt das: Nolan liefert das Beste aus beiden Welten!
Ein verkannter Klassiker: "Person of Interest" hat es schwer in Deutschland
Doch warum hat diese brillante Serie kaum wer gesehen? Die Antwort lautet: Weil das hierzulande nicht so einfach ist. Im Free-TV lief "Person of Interest" bei RTL, und da meist erst um 22:15 Uhr oder 23:10 Uhr – im Nachprogramm von "Alarm für Cobra 11". Noch weiter weg können zwei Zielgruppen kaum sein. Auch im Heimkino hat es die Serie meist schwer: Die DVD- und Blu-ray-Ausgaben der einzelnen Staffeln sind im Handel größtenteils vergriffen. Wer jedoch mal reinschauen möchte, hat im Streaming-Bereich Glück: Derzeit ist die Serie kostenlos (dafür mit Werbung) bei Amazon Freevee verfügbar.
Es lohnt sich: Fans von cleverer, packender und abwechslungsreicher Unterhaltung kommen an dieser Serie nicht vorbei. Und ein letzter Hinweis für Tierfreunde: Ab Staffel 2 spielt auch ein süßer Schäferhund eine entscheidende Rolle im Leben von Reese und Finch. Wie es dazu kommt? Schaut es euch an!