Es ist schon schräg manchmal. Man geht ins Kino, sieht einen Film, an den man keine Erwartungen hatte, von dem man auch vorab wenig gehört hatte, und wird so gut unterhalten, dass man ihn allen im Freundeskreis empfehlen will. Da ist er aber aus den Kinos schon wieder raus – weil man ihn so ziemlich als Einziger gesehen hat. Man hofft auf eine Streaming- oder Heimkino-Veröffentlichung, aber irgendwie will die nicht kommen.
So ging es mir bei "See How They Run" (also: "Sieh, wie sie rennen"), einer echten Perle, die mich mit ihrer charmanten Erzählweise bezaubert hat. Doch ins Kino ging fast keiner und so wartete ich sehnsüchtig auf einen Streamingstart. Dabei ist der mittlerweile bei Disney+ erfolgt, Abonnenten können den Film dort sehen. Groß mit ihm geworben hat Disney+ allerdings nicht. Unverständlich, denn er gehört zu dem besten, was man sich in diesem Jahr ansehen konnte.
Meta-Vergnügen der Extraklasse: "See How They Run"
"See How They Run" ist simpel gesagt eine Verfilmung des Krimi-Theaterstücks "Die Mausefalle" von Agatha Christie – gleichzeitig aber auch nicht. Das Theaterstück wird seit 1952 täglich im Londoner West End aufgeführt, gilt als das am längsten ununterbrochen gespielte Theaterstück der Welt. Und damit ist es unverfilmbar. Eine Klausel im Vertrag des Rechteinhabers besagt: "Die Mausefalle" darf nur verfilmt werden, wenn das Stück mindestens sechs Monate lang nicht mehr gespielt wurde. Das war noch nie der Fall.
Also musste sich Produzent Damian Jones, der das Stück unbedingt verfilmen wollte, etwas anderes ausdenken. Er engagierte Drehbuchautor Mark Chappell, der ihm einen Meta-Film schrieb, dessen geniale Idee zum Zunge schnalzen ist. Statt "Die Mausefalle" zu verfilmen, geht es in der Krimi-Komödie von Regisseur Tom George jetzt eben um einen Regisseur, der schon 1953 gerne "Die Mausefalle" verfilmen würde – aber dann selbst Opfer eines Mordes wird.
Einblick in die Mausefalle: "See How They Run" ist ein großer Spaß
Dieser Regisseur (gespielt von Adrien Brody) hätte also "Die Mausefalle" verfilmen sollen, hätte ihn nicht ein Unbekannter ermordet und seiner Leiche die Zunge rausgeschnitten. Der Mordfall wird dem konservativen Inspector Stoppard (Sam Rockwell) anvertraut. Zu seinem Ärgernis muss er die junge motivierte Polizistin Constable Stalker (Saoirse Ronan) als Partnerin berücksichtigen. Unter ihren Verdächtigen finden sich verschiedene Beteiligte des Theaterstücks sowie der geplanten Filmproduktion, etwa Drehbuchautor Merv (David Oyelowo) oder Platzanweiser Dennis (Charlie Cooper).
Unter den Verdächtigen sind aber auch reale Personen, zum Beispiel Richard Attenborough. Den Schauspieler und Regisseur kennt man heute u.a. noch als Gründer vom "Jurassic Park" im gleichnamigen Film. Tatsächlich war er 1953 am Londoner St. Martin's Theatre angestellt und wird deshalb hier ebenfalls eingebaut, dargestellt von Harris Dickinson. Und auch das Stück "Die Mausefalle" selbst und seine Autorin spielen eine überraschende Rolle im Verlauf der kurzweiligen 98 Minuten.
Meta ist hier so gut wie alles: Die junge Polizistin etwa ist Filmbegeisterte und zieht aufgrund ihrer Kino-Erfahrungen gern voreilige Schlüsse, über die der erfahrene Inspector nur den Kopf schütteln kann. Der Film-im-Film-Ansatz wird zudem immer wahnwitziger: Man hat also nicht nur die Handlung des Films, sondern auch den geplanten "Die Mausefalle"-Film und die Theatervorstellungen des Stücks, und die Grenzen zwischen diesen Ebenen verschwimmt gerne mal vor den Augen des Zuschauers.
"Knives Out" hat es vorgemacht, "See How They Run" zieht nach
Humorige Krimis haben derzeit Konjunktur: "Knives Out" war 2020 ein irre erfolgreicher Publikumshit, die Fortsetzung "Glass Onion" begeistert seit Dezember 2022 bei Netflix. Disney+ hat außerdem mit "Only Murders in the Building" eine Crime-Comedy-Serie im Gepäck, die von Kritikern und Zuschauern geliebt wird und oft in dieselbe Slapstick-Kerbe schlägt wie "See How They Run" – wenngleich man vor diesem Film wohl noch nie eine so derbe und ausufernde Tortenschlacht gesehen hat, wie sie hier geboten wird.
Man kann diese teils wirklich wild charakterisierten Figuren schnell als Knallchargen abtun, letztlich ist "See How They Run" aber ein Film, der ein großes Herz für alles Schräge und Ungewöhnliche hat. In seiner makabren Komik erinnert er teils gar an Meisterwerke wie "Ladykillers", die Inszenierung sowie die Musik von Daniel Pemberton wecken hingegen Assoziationen mit "Grand Budapest Hotel" von Wes Anderson – gerade in den vielen liebevollen Details, mit denen eine vergangene Ära (hier die opulenten 50er Jahre in London) wieder zum Leben erweckt wird.
Schade also, dass Disney+ diesen Film, der geistreich, albern, spannend und ästhetisch zugleich ist, kaum beworben hat. Nachdem er schon in den Kinos gnadenlos unterging, hätte man wenigstens Streamingnutzer stärker auf diesen Höhepunkt des Filmjahres 2022 aufmerksam machen dürfen. Wer Krimi-Filme, Agatha Christie, Theater-Geschichten, Meta-Erzählungen oder einfach nur gut gespielten Slapstick mag, sollte wirklich sehen, wie sie rennen.