Der Pirat, von dem "Our Flag Means Death" handelt, den hat es wirklich gegeben: Stede Bonnet ging als sogenannter Gentleman-Pirat in die Geschichte ein. Er war ein reicher und gebildeter Landbesitzer, der sich aus Eheproblemen und Langeweile heraus im Jahr 1717 entschloss, Seeräuber auf seinem Schiff Revenge zu werden. Allerdings taugte er nicht viel zum Piraten: Er hatte keine Erfahrungen auf hoher See, erarbeitete sich nie den Respekt seiner Crew und war schlicht zu weich für das Verbrecherdasein. Irgendwann übernahm der berüchtigte, blutrünstige Pirat Blackbeard sein Schiff, was Bonnet zur Flucht zwang.

Obwohl es Bonnet also gab und "Our Flag Means Death" somit eine wahre Geschichte erzählt, ist die Serie dennoch weit von der tatsächlichen Historie entfernt. Dies´Serie ist nämlich kein historisches "Fluch der Karibik", sondern eine höchst amüsante Comedy über einen Haufen mehr oder weniger begabter Piraten. Dass sie jedoch bei RTL+ in Deutschland am 1. Juni 2023 veröffentlicht wurde, direkt zu Beginn des Pride Month, ist kein Zufall, denn "Our Flag Means Death" ist vor allem eines: eine Revolution dessen, was man als "Queer TV" bezeichnet.

"Our Flag Means Death" ist eine romantische Piraten-Serie

"Our Flag Means Death" ist also nur sehr lose an den Werdegang des echten Stede Bonnet (in der Serie gespielt von Rhys Darby) angelehnt. Die erste Folge setzt bereits den Ton: Zwar werden allerlei Witze über die "verweichlichte Art" des Wunschpiraten gemacht, doch die Sprache der Figuren, ihr Miteinander, wirkt wahnsinnig modern. Diese Serie spielt 1717, aber sie ist klar unserer Realität von 2022/2023 entsprungen. Worum es bei dem Format eigentlich wird, wird spätestens klar, wenn Blackbeard (hinreißend komisch gespielt von "Jojo Rabbit"-Regisseur Taika Waititi) erstmals auf den Plan tritt.

Dann nämlich zeigt Serienschöpfer David Jenkins seine Absichten. Schnell gibt es da eine gewisse Spannung zwischen Bonnet und Blackbeard, die anfangs wie eine Rivalität wirkt, aber bei der immer deutlich wird, dass sie romantischer Natur ist. Von da an wird "Our Flag Means Death" eine andere Serie, eine schwelgerische Queer-Show, in der es darum geht, sich selbst zu finden und für die Menschen zu kämpfen, die man liebt.  

Queer wie sonst nichts: "Our Flag Means Death"

HBO Max

Sie dienen nur sich selbst: Der herrlich bunte und diverse Cast von "Our Flag Means Death".

Piraten waren in der Popkultur oft versteckt queer. Kapitän Hook aus der Disney-Version von "Peter Pan" avancierte vor Jahrzehnten zur Schwulen-Ikone. Als Symbolfiguren für Lesben, Schwule und Transgender sind Piraten perfekt geeignet: In "Our Flag Means Death" sind alle Piraten Außenseiter, die aus der Gesellschaft ausgebrochen sind, um selbstbestimmt ihr Leben zu leben – und die dabei eine Familie bilden, die nicht auf Blut basiert, sondern auf geteiltem Schmerz und gemachten Erfahrungen.

Die gesamte Crew ist queer wie nix. Bonnet und Blackbeard lieben sich gegenseitig, kämpfen aber jeweils um ihre Vorstellung von "Männlichkeit" – bis sie beschließen, sich das Amt des Schiffkapitäns zu teilen. Kein Zweifel: Die beiden Turteltauben erfinden quasi ihre Piratenversion der Homosexuellen-Ehe, nur um ihr Leben besser miteinander teilen zu können. Und dann ist da noch der nichtbinäre Pirat Jim (Vico Ortiz), ein Charakter, der zu Beginn noch mit Fake-Bart ausgestattet vorgibt, ein Mann zu sein, bis er sich traut, seine wahre Identität mit der Crew zu teilen. Er bittet sie, ab sofort "They / them"-Pronomen zu verwenden – und alle akzeptieren das ohne Diskussion. Auch sein späterer Partner Oluwande (Samson Kayo) ist damit vollkommen fein. Hinsichtlich queerer Präsentation ist diese selbstverständliche Akzeptanz fürs TV immer noch bahnbrechend.

Wohlfühlfernsehen – aber nicht ohne Schwächen

Diese paar Figuren sind nicht die einzigen schwulen oder trans Charaktere. Es gibt noch Black Pete (Matthew Maher), Fang (David Fane), Lucuis (Nathan Foad), Spanish Jackie (Leslie Jones) oder Calico Jack (Will Arnett), die sich alle auf unterschiedliche Weise als queer entpuppen. "Our Flag Means Death" ist Wohlfühlfernsehen pur und feiert jede Form von Liebe. Ganz großartig auch, wie viele Schwarze Piraten hier zu sehen ist: Aus der Historie wissen wir, dass sehr viele Piraten keine weiße Haut hatten, doch zahlreiche Filme (vom Klassiker "Unter Piratenflagge" mit Errol Flynn bis eben zu "Fluch der Karibik" mit Johnny Depp) haben hauptsächlich kaukasisch aussehende Piraten gezeigt. Repräsentation steht für David Jenkins an erster Stelle.

Die Serie ist also perfekt für den Pride Month. Sie ist wunderbar pfiffig inszeniert, hat über die gesamten zehn Folgen à 30 Minuten ein tolles Tempo, bietet erstaunliche Effekte von Schiffen auf hoher See und zelebriert queeres Lieben und Leben wie keine Produktion zuvor.  Zudem wird Musik famos eingesetzt, insbesondere der Song "The Chain" von Fleetwood Mac löst in einer Episode gar Gänsehaut aus. Nicht immer ist sie dabei ganz ohne Schwächen: In der zweiten Hälfte der Staffel fangen viele Gags an, sich zu wiederholen – und die Piratenkulisse, die aber eh nur als Aufhänger dient, wird mehr und mehr eigentlich vollkommen belanglos.

Wer also hauptsächlich wegen Piraten und Comedy einschaltet, ist nicht ganz an der richtigen Adresse – und sollte lieber auf den Stop-Motion-Animationsfilm "Die Piraten – Ein Haufen merkwürdiger Typen" zurückgreifen. Unbedingt empfehlenswert ist "Our Flag Means Death" aber doch, da sie mit ihrer bezaubernd offensiv romantischen Ader ganz entwaffnend aufzeigt: Ob Hetero, schwul, lesbisch, bi oder trans, wir sollten uns alle gegenseitig mehr liebhaben – wir sitzen schließlich alle im selben (Piraten-)Boot.