Vor dem neuen "James Bond"-Film "Keine Zeit zu sterben", mit dem sich Daniel Craig von seiner Paraderolle verabschiedet, sollte eine Warnung eingeblendet werden: "Vorsicht an alle Fans: Es sind Turbulenzen zu erwarten!" Es war klar, dass dieser Bond-Film anders wird als gewöhnlich. Er ist eine direkte Fortsetzung zum Vorgängerfilm "Spectre", und es ist das erste Mal, dass ein Bond-Darsteller einen richtigen Abschiedsfilm bekommt.

Daniel Craig hat der Reihe seinen Stempel aufgedrückt wie vor ihm wohl nur Ur-Bond Sean Connery. Unter ihm wurde die Figur James Bond ein neuer Charakter: Verletzlicher, realer, menschlicher. "Keine Zeit zu sterben" von Regisseur Cary Joji Fukunaga treibt dies auf die Spitze. Sein Film ist kein Agentenfilm mit James Bond als Hauptfigur, sondern ein psychologisches Action-Epos über den Menschen hinter der Codenummer 007.

Bonds neue Mission: Die Handlung

James Bond (Daniel Craig) hat den britischen Geheimdienst verlassen und verbringt zusammen mit seiner Geliebten Madeleine Swann (Léa Seydoux) Zeit in der italienischen Stadt Matera. Als Bond dort in eine Falle der Verbrecherorganisation Spectre gelockt wird, ist er sicher, dass seine große Liebe ihn verraten hat. Er verlässt sie und taucht auf Jamaika unter. Fünf Jahre später steht sein ehemaliger CIA-Kollege Felix Leiter (Jeffrey Wright) vor ihm. Er bittet Bond, nach einem verschwundenen Wissenschaftler (David Dencik) zu suchen, der aus einem geheimen MI6-Büro in London heraus entführt wurde.

Bond geht der Sache nach und trifft auf die Agentinnen Paloma (Ana de Armas) und seine Nachfolgerin beim MI6, Nomi (Lashana Lynch). Die Spur führt sie zu dem Terroristen Lyutsifer Safin (Rami Malek), der eine moderne Waffe in seinen Besitz gebracht hat, die einen Großteil der Weltbevölkerung auslöschen könnte. Um ihn zu stoppen, ist Bond auf die Hilfe seines inhaftierten Erzfeindes Ernst Stavro Blofeld (Christoph Waltz) angewiesen. Doch der spricht nur mit einer einzigen Person: Madeleine.

Ein Bond, wie kein anderer

Universal Pictures

Daniel Craig hat mit Ana de Armas mal wieder eine wunderschöne Frau an seiner Seite.

"Keine Zeit zu sterben" ist eine Zäsur für die Filmreihe, die seit fast 60 Jahren Generationen von Kinogängern begeistert hat. Der Film ist ganz um den Charakter von James Bond herum geschrieben. Ein Bedrohungsszenario gibt es zwar, und auch einen Schurken, doch all das tritt in den Hintergrund: Bonds Gefühlsleben ist der treibende Motor dieses Films. Die ersten fünfundzwanzig Minuten in Matera mögen vollgepackt mit phänomenaler Action sein, doch die Verfolgungsjagden mit dem Aston Martin DB5 (dem legendären Bond-Auto aus "Goldfinger") erzeugen nicht denselben Spaß wie bei früheren Bonds. Die Action ist viel mehr aggressiv, unangenehm, schmerzhaft. Weil das genau der Zustand ist, in dem Bond sich befindet.

Insgesamt gibt es einige klassische Elemente. Zum ersten Mal bestellt Craig seinen Wodka Martini tatsächlich "geschüttelt, nicht gerührt". Anspielungen auf alte Filme sind viele versteckt, u. a. Ölgemälde von allen früheren M-Darstellern (Judi Dench, Robert Brown und Bernard Lee). Und das Fukunaga in "Keine Zeit zu sterben" klassische Bondstimmung aus dem Ärmel schütteln kann, zeigt eine entfesselte Sequenz auf Kuba, in der Bond und die bezaubernde Ana de Armas als Paloma sich quer durch einen Gebäudekomplex und raus auf die Straße durchschlagen. Das macht Spaß, es fetzt, es ist 100 Prozent Bond.

Dennoch sollten Fans hier keiner Illusion erliegen: Dies ist kein klassischer Film wie einst "Feuerball" oder "Der Spion, der mich liebte" und es ist auch kein Film, der groß auf Retro-Stimmung und Nostalgie setzt, wie es zuletzt "Skyfall" und "Spectre" taten. "Keine Zeit zu sterben" verändert die Vorstellungen davon, was ein James-Bond-Film ist und sein kann. Aber: Tut er es auch überzeugend?

Klischees, Kitsch und Kontroverse

Universal Pictures

Sie ist Bonds große Liebe: Dr. Madeleine Swann, gespielt von Léa Seydoux.

Klar ist: Traditionalisten haben von Anfang an Probleme mit Daniel Craig und seinen Bond-Filmen gehabt. Insbesondere der viel gescholtene "Ein Quantum Trost" war langjährigen Fans ein Dorn im Auge. Doch grundsätzlich sind Veränderungen und Abweichungen von der Formel begrüßenswert, denn sie bringen frischen Wind in die Reihe. Wie sehr man bereit ist, mit einigen heftigen, sehr überraschenden Entscheidungen, die hier nicht gespoilert werden sollen, umzugehen, wird wohl auch davon abhängen, was für eine Art Fan man ist.

Mag man hauptsächlich die alten Bonds, wird "Keine Zeit zu sterben" einen entfremden. Ist man bislang Fan der Craig-Ära, ist der Film thematisch ein konsequentes, emotionales Ende. Es muss aber jedem einleuchten: Nach den gravierenden Konzeptänderungen dieses Films kann die Reihe nicht einfach zum Status Quo zurück, sondern wird sich komplett neuausrichten, sogar neuerfinden müssen.

Als einzelner Actionfilm betrachtet hat "Keine Zeit zu sterben" ganz ohne den Bond-Kosmos im Hinterkopf jedoch massive Probleme. Der ganze Plot um Bond und Madeleine und ihre "wahre Liebe füreinander" trieft vor Kitsch. In sonnendurchfluteten Aufnahmen küssen und lieben sie sich, was visuell gar an Telenovelas erinnert. Gleichzeitig greift der Plot tief in die Klischee-Kiste: Die üblichen Twists und Wendungen sind meilenweit absehbar, die Motivation des Schurken, der übliche gigantomanische Quark, die Sprüche abgestanden und 08/15. Zwar liegt der Fokus mehr auf den Charakteren als auf der Handlung, doch diese ist dennoch viel zu löchrig konstruiert, voller Ungereimtheiten. Viele Dialoge wirken eher steif und sorgen für leblose Schauspielleistungen. Daniel Craig macht einen guten Job in der Rolle, doch Neuzugänge wie Lashana Lynch, Rami Malek und insbesondere David Dencik haben zu wenige gute Szenen, um einen Eindruck zu hinterlassen. Schade ist auch, dass offensichtlich viele Szenen, die in Kuba oder Norwegen spielen sollen, eindeutig im Studio gefilmt wurden. Was die Effekte angeht, kann Bond leider nicht mit der Blockbuster-Konkurrenz mithalten.

Vielleicht wäre es doch an der Zeit, zu sterben?

Universal Pictures

Quo vadis, James Bond? – Diese Frage wird die Reihe sich nach Daniel Craig stellen müssen.

Mit diesem Film, der als Actionfilm einen okayen Eindruck macht, als Bond-Film aber aus allen Rahmen fällt, befindet sich die Reihe eindeutig in einer Identitätskrise. Der Bond-typische Humor fehlt hier gänzlich, es handelt sich um den mit Abstand düstersten, deprimierendsten Film der langen Reihe. Die Actionszenen sind brutal, rasant, aber auch gehetzt, sie dürfen keinen Spaß machen, sie sollen es auch nicht. Über allem liegt eine finstere Anspannung, ein überdeutliches Versuchen, ein großes Crescendo zu zaubern. Der Film will ein Epos sein. Doch muss Bond wirklich episch sein?

Die Bond-Reihe hat über nahezu sechs Jahrzehnte existiert, weil sie nie versucht hat, mehr zu sein, als sie ist. Terence Young, der einst den allerersten 007-Film "Dr. No" inszenierte, sagte mal: "In einem Bond-Film hat man es nicht mit Avantgarde oder Kunst zu tun. Man hat es mit kolossalem Spaß zu tun." Es scheint, dass das nicht mehr der Anspruch der Macher ist. Gewissheit hat man spätestens, wenn Hans Zimmer als Komponist die legendäre Bond-Titelmelodie nicht mehr melodisch-verschmitzt, sondern pompös und brachial einspielt, als ziehe gerade eine gewaltige Streitmacht in den Krieg.

Ein Mythos wie der von James kann seine Ursprünge nur so und so weit verlassen, bis er sich selbst aufgibt – und seinen Anhängern das Herz bricht. "Keine Zeit zu sterben" wird aber – dafür muss man weder Fan noch Hellseher sein – genau das tun. Es ist ein frustrierender, überzogen auf fast drei Stunden aufgeblähter Krawall-Exkurs, der die Fangemeinde und die breite Masse tief spalten wird. Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, die Reihe ein paar Jahre wegzulegen, statt nach einem Nachfolger für Craig zu suchen. Und zu analysieren, wie es weitergehen soll.

Wo Bond dran steht, da wollen wir auch Bond drin sehen. Nicht irgendeinen Bond, sondern unseren Bond … James Bond.

"James Bond 007: Keine Zeit zu sterben" ist seit dem 30. September in deutschen Kinos zu sehen.