Nur um das vorwegzunehmen: Ich liebe Reality-TV. Es ist für mich die perfekte Unterhaltung im Fernsehen und ja, auch größere Konflikte und ordentlich Action sind für mich ein fester Bestandteil davon. Aber wenn selbst die Verantwortlichen sich für ihre eigenen Sendungen entschuldigen müssen, oder wie im Fall von "Plötzlich arm, plötzlich reich" sogar komplett absetzen, dann stellt sich auch für mich die Frage: Wohin führt uns das?

Plötzlich arm, plötzlich reich: Sat.1 begeht gleich zwei Fehler

Seit Pfingstmontag 2021 sah sich Sat.1 den Vorwürfen des Schlagersängers Ikke Hüftgold (bürgerlicher Name: Matthias Distel) ausgesetzt, der einen Dreh zur Sendung "Plötzlich arm, plötzlich reich" abbrach. In diesem Fall zog Ikke Hüftgold bei der "Plötzlich arm"-Seite der Sendung ein, dann ging alles recht schnell. Nach eigenen Aussagen wäre das "Kindeswohl von zwei schwer traumatisierten Kindern" gefährdet gewesen, sagte Distel in einem Videostatement. Sat.1 habe gewusst, dass dort die Gefahr von Kindeswohl-Gefährdung bestünde, weitere Vorwürfe folgten. Der Sender kündigte zuerst rechtliche Schritte gegen den Sänger an, zog schließlich doch den Stecker und setzte "Plötzlich arm, plötzlich reich" ab, eine Unterlassungserklärung gegen Distel wurde zumindest angekündigt. Dabei war nicht nur die Kommunikation ein Problem, auch das Format hat einen stark voyeuristischen Charakter. Das ist so lange kein Problem, so lange niemand aggressiv bloßgestellt oder eben gefährdet wird. Und es nicht der erste Ärger dieses Jahr.

Ende April brach der Shitstorm über Sat.1 herein. Ein Kandidat der Show "Promis unter Palmen" machte unsägliche schwulenfeindliche Äußerungen, übrigens nicht sein einziger Fauxpas, wenn wir uns anschauen, was er über Patricia Blankos Figur gesagt hatte. Die anderen Teilnehmer, abgesehen von Willi Herren (†), reagierten so gut wie gar nicht und auch die Mittel, die der Produktionsfirma zur Verfügung stehen wie Schnitt, Off-Kommentare, Einblendungen oder sofortige Verbannung aus dem Format wurden nicht genutzt, um Prinz Marcus von Anhalt entsprechend abzustrafen.

Stattdessen strahlte Sat.1 den ganzen Kram zur besten Sendezeit aus, entschuldigte sich hinterher und schnitt die Sendung anschließend für die Joyn-Mediathek um. Das Schlimmste daran ist für Reality-TV-Fans aber vielleicht gar nicht Marcus von Anhalt (obwohl nah dran), sondern dass der Sender ihn in die Show eingeladen, den mehrfachen Vorbestraften prominent seinen Mist hat erzählen lassen und so einen kalkulierten Tabubruch beging. Wie weit können wir für unsere Einschaltquoten und Abrufzahlen gehen, ohne uns die Finger zu verbrennen? Sat.1 beendete die 2. Staffel nach dem Tod von Willi Herren sofort.

Und auch in der ersten Staffel gab es Ärger mit Mobbing gegen Claudia Obert von den anderen Kandidaten. Sat.1 hat, siehe die Quoten, recht erfolgreich das Prinzip "Sommerhaus der Stars" von RTL kopiert (nur ohne Paare). Aber um welchen Preis? Heftiges Übertrumpfen bei Skandalen und Geschmacklosigkeiten. Und Sat.1 ist nicht allein.

RTL: Dschungelcamp zum Sommerhaus war ein langer Weg

Schon bei den ersten Staffeln "Ich bin ein Star – Holt mir hier raus" machte sich RTL nicht nur Freunde. Vor allem die diversen Essaufgaben bei denen Tierhoden oder Käfer verspeist werden mussten, waren eine Zumutung. RTL hielt am Konzept fest, aber verkannte, was irgendwann das eigentlich Spannende war: Die Konstellation der Kandidaten und ihre Beziehungen untereinander.

Unvergessen auch das Zurschaustellen der Kandidaten von "Schwiegertochter gesucht" über sehr viele Jahre, das erst mit dem eingeschleusten Kandidaten von Jan Böhmermanns #verafake ein Ende nahm. Damals waren diese Sendungen praktisch noch friedlich, im Vergleich zu heutigen Shows. Das neue Format "Sommerhaus der Stars" nutzte 2016 das Genre Reality-TV perfekt, als es etabliert wurde. Intrigen, Abstimmungen, Zerwürfnisse und ab und zu ein Spiel – die perfekten Zutaten, die das Format zu einem Quotenhit machten. 2020 kam der tiefe Fall: Spuckattacken, Rumschreien, brutales Mobbing. RTL verhob sich mit den dargestellten Szenen, die absolut unerträglich waren. Der RTL-Unterhaltungschef gab im Nachhinein zu: "Die Eskalation der Aggressivität und das unangenehme negative Gefühl, das in dieser Staffel steckt, hat uns persönlich auch betroffen gemacht." Es hätte sogar noch fieser kommen können: "Wir haben gar nicht alles gezeigt", sagte er im Interview mit uebermedien.de – man mag es sich kaum ausmalen. Die Quote stimmte auch hier.

Auch ProSieben ist nicht frei von solchen Vorwürfen. 2020 endete die Staffel "Germany's Next Topmodel" im Finale damit, dass Kandidatin Lijana freiwillig ging, weil sie online gemobbt, bedroht und sogar auf der Straße angespuckt wurde, wie es damals hieß. Lijana war in der Show als eine sehr unsympathische Kandidatin zu sehen, die mit den anderen Möchtegern-Models auf Konfrontationskurs ging. Die Produktion hatte sie aber ganz klar in diese Rolle reingeschnitten, was nicht hätte sein müssen. Ab und zu in ein positives Licht stellen oder ihrem Ehrgeiz mehr Kontext geben, hätte ihr Leben in diesem Fall sehr viel leichter gemacht.

Reality-TV lebt, wie Fiktion, von einer guten Spannungskurve. Die Zuschauer wollen natürlich das Drama sehen aber es muss sich mit dem Spaß in der Show die Waage halten. Dazu gehört genauso, dass die Produktionsfirmen und damit die Sender auch verantwortlich mit ihren Protagonisten umgehen – ihr psychisches und körperliches Wohl muss an oberster Stelle stehen. Diese Verantwortung wächst immens, wenn Kinder im Spiel sind. Die Zuschauer, mich eingeschlossen, müssen sich fragen, wie viel Raum sie solchen Formaten in Zukunft geben möchten. Wenn nicht sicher ist, wie es den dargestellten Menschen wirklich geht oder Tabubrüche zugunsten von Quote zur Norm werden, sieht es ziemlich düster für RealityTV im deutschen Fernsehen aus.