Eigentlich müsste FBI-Agent Peter Sutherland (Gabriel Basso) als Nationalheld in den USA verehrt werden, vereitelte er doch eigenhändig einen Bombenanschlag auf eine vollbesetzte U-Bahn in Washington. Den großen Ruhm hat ihm das aber kaum eingebracht – da ein Täter nie gefasst wurden, kursieren im Internet Gerüchte von rechten Trollen, Sutherland selbst haben den Anschlag inszeniert. Jahre später arbeitet der als "Nacht Agent" für den US-Präsidenten und ist sich nicht sicher, ob er den Job als Beförderung oder Strafversetzung verstehen soll. Alles, was er zu tun hat, ist nachts in einem kleinen fensterlosen Kellerraum des Weißen Hauses zu sitzen und ein Telefon zu bewachen: für den Fall, dass es klingelt, was es aber niemals tut.

Es ist wohl kein Spoiler zu verraten, was in der Serie "The Night Agent" dann passiert. Eines Nachts klingelt das Telefon plötzlich. Sutherland hebt ab und hat am anderen Ende der Leitung eine Frau namens Rose Larkin (Luciana Buchanan) dran, deren Onkel und Tante erst vor wenigen Minuten brutal ermordet wurden. Damit beginnt eine Verschwörungsgeschichte mit reichlich Action, die bei Netflix gerade in vielen Ländern auf Platz 1 der hauseigenen Top 10 klettert. Ein verdienter Erfolg?

Tempo um jeden Preis: "The Night Agent" ist Adrenalin pur

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Luciane Buchanan und Gabriel Basso zeigen beide in "The Night Agent", dass sie das Zeug haben, zukünftige Stars zu werden.

"The Night Agent" basiert auf dem gleichnamigen Roman des Autoren Matthew Quirk und die Serie hat eindeutig verstanden, was dieses Buch auszeichnet: Tempo, Tempo und noch mehr Tempo! Von der rasanten Eröffnungsszene an drückt die Netflix-Produktion auf das Gaspedal und kommt nur selten zur Ruhe. In den ersten drei Episoden gibt es kaum Verschnaufmöglichkeiten, erst später wird sich für die Geschichte und Figuren etwas Zeit genommen – wenn auch nicht allzu viel. Für Binge-Watcher, also Zuschauer, die eine Serienstaffel am liebsten in einem Rutsch durchgucken, ist "The Night Agent" ideal: Langeweile kommt in den insgesamt zehn Folgen nicht auf, zu sehr gehen die Geschehnisse Schlag auf Schlag.

Es gibt viel Action zu bestaunen, und die ist von angenehmer Härte und Ernsthaftigkeit – gerade in den vielen, teils sehr aufwendig gefilmten Verfolgungsjagden. Allzu oft verlieren sich Agententhriller in pseudo-düsterer Stimmung, doch "The Night Agent" verdient sich seine ernste und dramatische Anspannung. Zudem ist das Darstellerensemble überzeugend: Gabriel Basso wirkt dank seines Charismas wie ein zukünftiger Star, außerdem stark spielen Hong Chau (erst vor Kurzem noch oscarnominiert für "The Whale") als Chief of Staff im Weißen Haus und der wunderbare Robert Patrick (bekannt als T-1000 aus "Terminator 2") als FBI-Vizedirektor.

Bei Netflix: "The Night Agent" kann seine Vorbilder nicht verbergen

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Hong Chau ist als undurchsichtige Politikerin ein klares Highlight in "The Night Agent".

Eine Serie mit so hohem Tempo und so vielen Twists zu konstruieren, hat seine Vorteile: Wie der Roman ist "The Night Manager" so enorm unterhaltsam und kurzweilig. Doch im späteren Verlauf der Staffel geht das – übrigens ebenfalls genau wie im Roman – auch auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Die Serie überschlägt sich mit Twists und unerwarteten Wendungen, setzt mit jedem Cliffhanger wieder eins drauf und macht so ein ums andere Mal einen äußerst konstruierten Eindruck. Dabei hilft es auch wenig, dass sich die Geschichte oft wie ein Gemischtwarenladen aus anderen Agentenstoffen anfühlt, wie ein Best-of des Spionagethrillers. Gleich mehrere Wendungen erinnern stark an die Serie "24", einige Figuren könnten direkt aus "Homeland" stammen und die Handlung selbst hat mehrere eindeutige Parallelen zu den Kinofilmen "Der Staatsfeind Nr. 1", "Die Bourne Verschwörung", "Mord im Weißen Haus" und man könnte diese Aufzählung vermutlich bis zu großen Klassikern wie "Die drei Tage des Condor" und "Botschafter der Angst" fortführen.

Nun muss eine Netflix-Serie, die einfach ein paar spannende Stunden mit guter Action liefern will, das Rad sicherlich nicht neu erfinden. Fans aller genannter Filme und Serien werden in "The Night Agent" vieles finden, was ihnen vertraut vorkommt, sich aber auch davon gut unterhalten fühlen. Am Ende steht der Erfolg von "The Night Agent" auch dafür, dass die Verschwörungsthriller des Agentengenres immer noch publikumswirksam sind. Nicht umsonst setzen auch andere Streamingdienste auf solche Geschichten. Bei Paramount+ startete jüngst "Rabbit Hole" (übrigens auch eine Serie, die viele Gemeinsamkeiten mit "The Night Agent" hat) mit Kiefer Sutherland, bei Apple TV+ wurde im vergangenen Jahr die meisterhafte Serie "Slow Horses – Ein Fall für Jackson Lamb" zum Streaminghit und vor Kurzem erst hat Amazon Prime Video nach sieben Jahren angekündigt, ihre famose Agentenserie "The Night Manager" in eine zweite Staffel zu schicken.

Als Agent hat man es wahrlich nicht leicht, ein Blick auf die Streamingdienste reicht, um zu wissen: Die Arbeit geht den Top-Spionen noch lange nicht aus.

Die komplette erste Staffel "The Night Agent" ist am 23. März 2023 bei Netflix erschienen.